Ich selber nahm mich in diesen Jahren zurück. Natürlich mochte ich nicht etwas praktizieren und vorantreiben, was womöglich gegen das Zeugnis der Heiligen Schrift ist. Mir fiel auf, dass nicht nur ich Zurückhaltung übte. Auch manche Fürbitter, die in den 1980er Jahren noch überzeugt »im geistlichen Kampf« standen und die freudig bei den aufkommenden Jesus-Märschen mitzogen, schwiegen nun lieber. Aber war das die Lösung? Während das Böse in immer neueren Fratzen auf der Bildfläche des gesellschaftlichen Lebens erscheint, haben wir keinen aktiven Widerstand zu leisten? Am 11. September 2001 wurde die Welt durch den terroristischen Anschlag auf das World Trade Center in New York geschockt. Die Zeitungsüberschriften der folgenden Tage machten deutlich, dass selbst säkularisierte Zeitgenossen von der Macht des Bösen und von satanischen Dimensionen sprechen. Sollen wir kämpfen gegen die Mächte der Finsternis, die sich in unseren Ländern ausbreiten, oder lieber nicht? Bei meinen Gesprächen mit vielen geistlichen Leitern im Land verstärkte sich mein Eindruck, dass dringend Orientierung nötig ist.
In anderen Ländern der Erde gibt es ähnliche Fragestellungen. Mit großem Gewinn nahm ich vom 16. bis 22. August 2000 an einer theologischen Studientagung der weltweiten Lausanner Bewegung in Nairobi/Kenia zum Thema: »Erlöse uns vom Bösen – Geistliche Kampfführung« teil. Die Begegnung mit den erfahrenen Schwestern und Brüdern aus anderen Ländern half mir, die eigene Glaubenspraxis besser zu reflektieren und die theologische Reflexion zum Thema zu vertiefen. Zudem wurde mir deutlich, dass wir in Deutschland auf eine Kirchengeschichte zurückblicken, die uns viele gute Impulse gibt – man denke nur an Martin Luther, an Johann Christoph Blumhardt oder auch an den geistlichen Kampf der Bekennenden Kirche zur Zeit des Dritten Reiches.
Die ganze Thematik der »geistlichen Kampfführung« muss auf einer breiten Basis angegangen werden. Deshalb habe ich mich entschlossen, das vorliegende Buch zu schreiben und die Diskussion auch in unserem Land wieder aufzunehmen. Dabei werde ich zunächst etwas über unser Weltbild nachdenken. Gleich am Anfang soll die Frage nach der Bedeutung der biblischen Aussagen behandelt werden. In den folgenden Kapiteln denke ich über Grundzüge einer biblischen Lehre vom Bösen nach, über die Macht Gottes und schließlich auch über die Verantwortung des Menschen in diesem Zusammenhang. Im letzten Teil des Buches befasse ich mich mit einigen Grundfragen der Gemeinde- und Seelsorgepraxis.
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Eine Welt – oder viele Welten?
In der Welt habt ihr Bedrängnis; aber seid guten Mutes, ich habe die Welt überwunden. Johannes 16,33
»Wo soll das bloß noch alles enden?« Seufzend legte mein Großvater die Tageszeitung aus der Hand. Die Meldung von der Landung auf dem Mond hatte ihn erschüttert. In seiner Weltanschauung waren Mondlandungen nicht vorgesehen. Diese neuen technischen Errungenschaften machten ihm zudem Angst.
Heute sind es andere Meldungen, die uns die Wahrheit der jesuanischen Aussage von der »Bedrängnis in der Welt« vor Augen führen: Das explosionsartige Wachstum der Weltbevölkerung und die damit verbundenen Herausforderungen; die drastische Zunahme an Gewaltkonflikten im In- und Ausland; die unkalkulierbare Entwicklung der Informationstechnik und nicht zuletzt die stark umstrittenen Fortschritte in der Genforschung. Wo soll das bloß enden? Gibt es überhaupt ein Ende? Verbergen sich hinter den Meldungen aus dieser Welt noch andere Welten?
Spätestens dann, wenn wir die erschütternden Auswirkungen der beiden Weltkriege sehen, wenn wir im menschlichen Leben die Bosheit einer Bestie zu erkennen glauben, stellt sich die Frage nach dem Weltverständnis. Dazu kommen die unzähligen Entdeckungen und Offenbarungen, die wir mit einer von der Aufklärung geprägten Weltsicht nicht deuten können. Hilflosigkeit macht sich breit und endet häufig in einer Sprachlosigkeit oder auch in einer vom Intellekt abgehobenen Religiosität. Da, wo die unsichtbare Welt nicht zur realen Welt zählt, lauert die Gefahr des modernen Aberglaubens. Zudem bekommt sie etwas Exotisches; das Fremde interessiert und lockt die suchenden Geister an. Fallen wir nun zurück in ein Weltverständnis des Mittelalters? Welche Weltsicht vermittelt uns die Bibel?
1. Von antiken Weltanschauungen zum rationalistischmaterialistischen Weltbild
Wer heute noch von Himmel und Hölle, von Engeln und Dämonen und von der unsichtbaren Welt spricht, als sei sie selbstverständlich und begreifbar, der handelt sich schnell den Vorwurf ein, man wolle zurückfallen in den Aberglauben des Mittelalters. Wir wissen von den schrecklichen Folgen einer geradezu naiven Vorstellung von der unsichtbaren Welt. Zwischen 1450 und 1700 wurden allein über 100 000 Menschen als angebliche Hexen und Hexer auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Das so genannte »finstere Mittelalter« wurde deshalb so dunkel, weil immer mehr Menschen die Macht des Bösen überbetonten und schließlich hinter jedem Kritiker und hinter jeder übersinnlichen Macht den Bösen vermuteten.1 Die kirchliche Inquisition sah hinter all dem das kosmische Komplott Satans gegen die christliche Kirche und damit gegen die christliche Gesellschaft.
Grundlegend für diese Ansicht war das sogenannte »biblische Weltbild« (Empyreum) der frühen und mittelalterlichen Christenheit, das sich die Wirklichkeit mit Himmel, Erde und Hölle wie in drei Stockwerken gegliedert dachte. Da gibt es ein »oben« und ein »unten«; da bekommt das Unsichtbare Namen und Gestalt. Mittelalterliche Darstellungen vom Teufel und von Dämonen müssen geradezu als naiv betrachtet werden. Attribute wie Hörner, Pferdefuß und Schwanz sind Produkte menschlicher Phantasien, die mit der Wirklichkeit satanischer Existenz nichts zu tun haben. Diese Vorstellungen von einer jenseitigen räumlichen Welt des Bösen hielten sich bis in die Tage der Aufklärung erstaunlich hartnäckig. Man stellte sich vor, dass über bzw. unter unserer Welt das Jenseits lag, ein Raum, der naiv räumlich gedacht wurde und an dem sich Gottes Engelheere bzw. die dämonischen Heere des Teufels aufhielten.
Obwohl Nikolaus Kopernikus (1473–1543) durch seine Entdeckung, dass die Sonne und nicht die Erde den Mittelpunkt unseres Planetensystems darstellt, bereits eine grundlegende Änderung in der Weltsicht einläutete, stellte erst der italienische Philosoph Giordano Bruno (1548–1600) die Existenz eines Jenseits als Ort der unsichtbaren Welt völlig infrage. Die Vorstellung einer jenseitigen Welt mit Engeln, Dämonen und unsichtbaren Mächten wich einer Sicht, in der alles innerweltlich verstanden werden musste. Obwohl man Giordano Bruno nach siebenjähriger, schmählicher Haft schließlich als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannte, konnte die Kirche nicht mehr einfach in den traditionellen Denkschemata bleiben.2 Dennoch hielt sie an der Grundüberzeugung fest, dass es eine unsichtbare Welt gebe, wenngleich ihr Ort nicht mehr eindeutig auszumachen sei.
Die Reformatoren sprechen mit einer großen Selbstverständlichkeit von Engeln und Dämonen. Besonders Martin Luther ging in seiner Frömmigkeit und Theologie von der Existenz Satans aus. »Nullus diabolus, nullus redemptor« (Wo kein Teufel ist, braucht es auch keinen Erlöser!) – diese Einsicht prägte auch die Theologie der Reformatoren. Luther lehnte die »neuen Astrologen« ab, sah jedoch auch die Auffassung vom Empyreum kritisch, in der Christus als im Himmel thronend gedacht wurde. Von besonderer Aktualität dürfte ein Predigtausspruch von 1520 sein: »Wenn sie mit dem Kopf durch den Himmel bohren und sehen sich in dem Himmel um, da finden sie niemand; denn Christus liegt in der Krippe und in des Weibes Schoß.«3 So konnte sich die klassische Auffassung von einem dreistufigen Weltbild zwar nicht mehr richtig halten, doch auch das neu entstehende Weltverständnis der aufkeimenden Aufklärung hieß die Kirche zunächst nicht willkommen.
Dieses aufklärerische Weltbild wurde entscheidend von den Philosophen