»Meine Güte, Jungs, was für Augen!«
»Du solltest die mal von innen sehen, brrrr!« Fotto schüttelte sich, dann richtete er seine beiden rotumrandeten Strahler auf mich. »Sag mal, hab’ ich das geträumt, oder hast du dich die ganze Nacht unterm Flügel herumgerollt?«
»Das mußt du geträumt haben«, antwortete ich. »Du kannst es nicht gesehen haben, du hast schließlich wie ein Faultier mit Polypen geschnarcht, seit du dich hingelegt hast – oder besser gesagt, seit ich dich hingelegt habe. Ich habe mich auch nicht herumgerollt. Aber es stimmt schon, ich habe unterm Flügel gelegen.«
»Mit einer Lampe?« beharrte er. »Hast du wirklich mit einer Lampe geschlafen?«
»Auch das.«
Fotto versuchte, den Kopf zu schütteln, gab es aber schnell wieder auf. »Warum zum Kranich hast du denn unterm Flügel geschlafen?« fragte er. Seine Stimme hörte sich an, als ob seine Stimmbänder dringend rasiert werden müßten.
»Weil er so musikalisch ist«, antwortete Thomas grinsend.
»Ach so«, meinte Fotto zerstreut, als ob das eine total vernünftige Erklärung gewesen sei. Er betrachtete aus zusammengekniffenen Augen das Brötchen, das er sich geistesabwesend auf den Teller gepackt hatte, und schüttelte sich. Dann kniff er ein Auge zu und sah mich mit dem anderen fragend an.
»Was wolltest du denn mit der Lampe?«
»Licht haben.«
»Wozu?«
»Zum Lesen.«
»Du hast gelesen? Die ganze Nacht? In einem Buch?«
Jetzt hatte er beide Augen aufgerissen. Sie sahen aus wie die Rücklichter eines alten Ford Taunus.
»Die Antwortet auf alle drei Fragen lautet ja.«
»Du bist ja einfach nicht mehr normal! Was war das denn für ein Buch? Ein Porno?«
»Ja, was glaubst du denn?«
»Aber was für einer?«
Ich konnte nicht mehr antworten, denn jetzt kamen die anderen vom Schwimmbecken herbeigestürzt. Lisbeth trat hinter Sørens
Stuhl, beugte sich über ihn, legte ihm die Arme um die Schultern und stieß mit ihrem Kinn gegen seinen Kopf.
»Hallo, Schnuffel!« sagte sie. »Geht’s gut?«
»Nach dieser Nacht wohl kaum«, antwortete Søren trocken.
Fotto ließ sich nicht ablenken. »Was war das für ein Buch?« fragte er starrsinnig, obwohl es ihm in Wirklichkeit wahrscheinlich schnurzegal war. Er selbst machte nie ein Buch auf.
»Die Flucht des Hirsches«, sagte ich.
»Ha, das kenn’ ich gut«, rief Lisbeth. »Das ist von Hausgaard. Aber dafür brauchst du doch nicht die ganze Nacht!«
»Liebe Lisbeth«, sagte ich geduldig. »Da mußt du irgendwas falsch verstanden haben. Es ist wahrhaftig nicht von Hausgaard, und außerdem ist es ziemlich umfangreich.«
»Von wem ist es denn?«
»Von Christian Winther.«
»Den kenn’ ich nicht«, sagte Lisbeth und fügte kichernd hinzu: »Der ist sicher nicht von hier.«
»Wie hast du’s bloß bis in die 2 g geschafft, ohne von der Flucht des Hirsches und Christian Winther gehört zu haben?« fragte Thomas.
»Das ist meine Kunst. Du ahnst gar nicht, mit welch phänomenalem Unwissen ich in die 2 g gekommen bin. Man muß sich bloß ein bißchen Mühe geben.«
Das hörte sich seltsam an, aber wir verstanden, was sie meinte. »Claus sagt ja selber, daß meine Unbildung momentan ist!« fügte sie triumphierend hinzu.
»Nicht momentan, du Knalltüte!« Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe mo-nu-men-tal gesagt, und das ist durchaus nicht dasselbe.« »Nicht?« fragte Lisbeth gleichgültig und rülpste so ungeniert über Sørens Kopf, daß seine Haare vornübergeweht wurden.
»Lisbeth, du Schwein!« rief Anne. »Wir essen.«
»Macht doch nichts«, sagte Lisbeth. »Eßt nur weiter, mich stört das nicht.«
Ich sah Søren an. Er sah total selig aus, so als ob er sich nichts Schöneres vorstellen konnte, als von Lisbeths Riesenmundwerk angerülpst zu werden.
Ich konnte es nicht fassen. Der Mann mußte doch ein Masochist oder so was sein.
Anne und Agathe saßen auf derselben Tischseite wie ich, nur einige Stühle weiter weg, und ich konnte Agathe nicht sehen, wenn ich mich nicht regelrecht über den Tisch werfen wollte. Aber mir war aufgefallen, daß Thomas ihnen nur kurz zugenickt hatte, als sie an den Tisch gekommen waren, und daß weder sein noch Annes »Hallo« besonders überschwenglich geklungen hatten. Offenbar hatten sie sich im Laufe der Nacht zerstritten. Vielleicht hatte er etwas gewollt, was sie nicht wollte, und sie konnte manchmal ganz schön energisch und abweisend sein. Andererseits war es nicht sehr wahrscheinlich, daß sie es nicht schon früher miteinander gemacht hatten, sie waren schließlich über ein Jahr zusammen, wenn man Thomas’ USA-Aufenthalt mitzählte.
Niemand war auch nur im geringsten überrascht gewesen, als Thomas und Anne sich zusammengetan hatten. Es wirkte fast wie ein Naturgesetz, daß der tollste Typ und die hübscheste Frau der Schule ein Paar bildeten. Ich hielt zwar Agathe für die hübscheste, aber bei einer Abstimmung hätte sicher Anne den Sieg eingesackt, denn sie war auf diese leicht banale Fotomodellweise hübsch, die die meisten toll finden. Miss Provinzkaff. Das macht ja auch nichts – nur war mir eben Agathe lieber, die doofe Nuß.
Ich hatte gehofft, daß alles besser werden würde, wenn wir erst in die 2 g und damit in eine Klasse kämen. Dann mußte sie doch einfach feststellen, daß ich intelligent, charmant, sympathisch und bescheiden war. Sie würde mich und mein wahres Ich kennenlernen, sagte ich mir – ich sagte es übrigens auch Thomas und Mini –, und dann würde sie begreifen, daß sie keinen Grund hatte, mich so einfach zu hassen.
Am ersten Morgen nach den Ferien gab ich mir schreckliche Mühe. Ich duschte so lange, bis ich rot wie ein Krebs war, und ich übergoß mich mit Duftwässerchen und Deos, bis ich stank wie ein ganzer Puff und Rikke, meine kleine Schwester, sich demonstrativ die Nase zuhielt. Ich hatte mich sogar zum erstenmal in meinem Leben richtig naß rasiert, und das hatte mir einen langen Schnitt am Kinn eingebracht.
Zum Glück war es noch so früh gewesen, daß ich fast meine normale Farbe zurück hatte, daß die Wunde nicht mehr blutete und daß der Duft fast ganz verflogen war, als ich in der Schule ankam. Die zehn Kilometer auf dem Fahrrad hatten auch mitgeholfen, die übermäßige Wirkung des Deos zu tilgen, aber das alles hatte dann nicht das geringste erreicht.
Aus irgendeinem Grund kam Agathe ein wenig zu spät, und für einen wilden, erwartungsvollen Augenblick war ich davon überzeugt, daß mein Glück gemacht war, denn es gab nur noch einen leeren Platz – und zwar neben mir. Normalerweise saß ich ja neben Thomas, aber er und Anne – vielleicht vor allem Anne – hatten beschlossen, daß sie in diesem Jahr zusammensitzen wollten.
Agathe kam mit ihrer leeren Tasche in der Hand in die Klasse und durchschaute die Lage auf einen Blick. Sie blieb bei der Tür stehen und sah Palle, unseren Klassenlehrer, an.
»Wo soll ich sitzen?« fragte sie, und ihre Stimme zitterte leicht. »Tja, die große Auswahl hast du ja nicht mehr«, antwortete Palle. »Du wirst dich wohl mit Claus zufriedengeben müssen.«
»Neben dem soll ich sitzen?«
Das hörte sich an, als ob ich Frankensteins Monster wäre oder an Aussatz oder Beulenpest litte. Ich konnte irgendwo hinter mir Mini kichern hören.
»Ja, warum nicht? Jetzt setz dich schon, Agathe«, sagte Palle. Agathe blieb stehen.