Vom Aussehen her erinnerte sie mich an Marleen Merlin, diesen Stummfilmstar, mit ihren langen, dunklen Haaren, dem spitzen Gesichtchen und der Brille. Sie wäre eigentlich sehr niedlich gewesen, wenn sie nicht so eine scheußliche Haltung gehabt hätte. Das hört sich vielleicht schwachsinnig und rückständig an, aber so war es eben. Sie reckte den Kopf vor und den Hintern zurück, und ihre Schultern zog sie über die Ohren. Normale Menschen hätten am ganzen Körper einen Krampf, wenn sie auch nur eine halbe Stunde so herumlaufen müßten, aber Hannah schien das nichts auszumachen. In alten Zeiten sagten die Väter immer zu ihren Kindern: »Halt dich gerade!«, und Hannahs Vater hätte ihr einen großen Dienst erwiesen, wenn er das gesagt hätte. Womöglich hat er es ja auch getan, aber dann hat es nichts geholfen, und inzwischen war er tot, das wußte ich immerhin. Ich wußte auch, daß sie und ihre Eltern in Indien gelebt hatten und daß ihre Mutter gestorben war, als Hannah elf war. Sechs Jahre später war sie nach Dänemark übergesiedelt, weil sie dort Abitur machen wollte. Kurz darauf kam ihr Vater bei einem Flugzeugabsturz ums Leben, und Hannah zog in unsere Gegend.
Sie wohnte draußen auf dem Land, und ich nahm an, daß sie zu Verwandten gezogen war. Aus irgendeinem Grund, vielleicht weil sie ein bißchen altmodisch wirkte, hatte ich die Vorstellung, daß sie bei alten Menschen lebte, bei ihren Großeltern oder Großtanten oder so, und daß sie in einem kleinen weißen Steinhaus wohnten. Das Haus war wirklich weiß, aber ansonsten stimmte keine von meinen Vermutungen.
Ursprünglich hatten wir für unser Info-Wochenende ein Ferienhaus mieten wollen, aber offenbar waren wir zu spät dran, denn wir konnten einfach keins auftreiben. Heutzutage veranstaltet ja jeder Heini sein Info-Wochenende, schon die neunten Klassen fangen damit an.
Die Mädchen hatten die Organisation übernommen. Sie fanden heraus, daß erst im Dezember wieder Ferienhäuser frei wären, und das kam für uns nicht in Frage. Wir hatten schon alle Hoffnung aufgegeben, noch etwas zu finden, als Hannah plötzlich mit leichtem Zögern sagte: »Wir könnten es natürlich draußen bei mir machen.«
2
Bei Hannah? Ich dachte zuerst, das sollte ein Witz sein. Wir waren zwar eine kleine Klasse mit nur sechzehn Schülern, aber ich konnte mir trotzdem nicht vorstellen, wie diese ganze Bande samt zwei, drei Lehrern sich in ein kleines weißes Steinhaus quetschen sollte, in dem schon Großväter, Großmütter und alte Tanten saßen. Aber die Mädchen waren wild begeistert. Später ging mir auf, daß sie natürlich etwas gewußt hatten, was ich nicht wußte.
»Für das ganze Wochenende?« fragte Mini skeptisch.
Er dachte offenbar das gleiche wie ich.
»Ja, natürlich!« krähten die Mädchen im Chor. »Das wird spitze!« »Aber, ich meine, hast du denn genug Schlafplätze für uns alle? Für alle zusammen?« fragte Mini vorsichtig. Er hatte ganz offenbar Angst, Hannah zu verletzen, aber er hörte sich trotzdem sehr skeptisch an.
»Ja«, antwortete Hannah. »Das wird schon gehen. Wir haben ja auch noch den Hühnerstall.«
Den Hühnerstall! Es wurde wirklich immer besser!
»Da stecken wir die Lehrer rein«, sagte Fotto mit einem Grinsen. »Ja, das hab’ ich mir auch überlegt. Das ist sicher die praktischste Lösung«, meinte Hannah, ohne eine Miene zu verziehen.
Ich freute mich auf die Gesichter, die die Lehrer machen würden, wenn sie hörten, daß sie in einem Hühnerstall schlafen sollten. Womöglich legten sie dann Eier!
»Aber ein paar von euch müssen einen Schlafsack mitbringen«, fügte sie fast wie um Entschuldigung bittend hinzu.
Ich glotzte sie überrascht an. Was hatte sie sich denn vorgestellt? Daß wir den Greisen die Bettdecken klauen würden?
Die Mädchen waren Feuer und Flamme. Sie quasselten alle wild durcheinander, hundert Wörter pro Sekunde, und wir anderen konnten nicht den kleinsten Mucks dazwischenwerfen. Sie planten schon alles in sämtlichen Einzelheiten. Mädchen planen gern – besonders die Details. Sie sind die geborenen Sekretärinnen. Wenn wir dabeigeblieben wären und wenn ich zugehört hätte, wäre ich von Hannahs Haus nicht so überrascht gewesen, aber wir verdrückten uns, als uns aufging, daß wir überflüssig waren. So lief es immer, wenn etwas organisiert werden mußte. Die Mädchen regelten alles, denn sie konnten das viel besser als wir – dachten sie. Im letzten Moment warfen sie uns dann allergnädigst noch ein paar Aufträge an den Kopf, so wie man einer Hundemeute Knochen hinwirft. Zum Beispiel: »Ach, Mini, du sorgst doch für Tischplatten und Böcke?« Oder: »Claus, sei ein Schatz und bring doch bitte zwölf Stühle mit.« Und dann konnte man nur noch dankbar sein, zwölf Stühle an Land ziehen, selbst wenn man sie stehlen mußte, und sie auf den Gepäckträger laden.
Aber diesmal gab es keine Aufträge. Niemand sollte sich um Tische und Stühle kümmern, niemand sollte die Getränke besorgen, niemand sollte überhaupt irgendwas tun. Alles wurde ohne unsere Einmischung geregelt. Von den Mädchen, nahm ich an, oder von unsichtbaren Händen. In Wirklichkeit erledigten Hannah und ihre Ayah alles.
Wir waren siebzehn, als wir freitags am frühen Abend mit einem gemieteten Bus losfuhren. Vierzehn Schüler und drei Lehrer: Palle, Niels Ole und unsere absolut ungenießbare Mathelehrerin Hetty Ibsen. Es waren nur vierzehn Schüler, weil Hannah ja schon draußen war und weil der Stumme Truls sich an nichts beteiligte. Niemand wußte, warum, und niemand interessierte sich dafür. Er war eine Größe für sich, ein Einzelgänger. Lisbeth hatte einmal behauptet, er gehöre irgendeiner Sekte an, aber wir hatten uns geeinigt, daß er einfach bloß verrückt war.
Das Haus war die erste Überraschung, Hannahs Ayah die zweite. Ich fahre viel Rad, und ich war hier oft vorbeigekommen, aber das Haus hatte ich noch nie gesehen. Es lag verborgen hinter Bäumen und einer mehrere Meter hohen Hecke. Von außen konnte man höchstens ein Stück vom Dach und im Winter etwas Weißes erkennen, das war alles.
Und jetzt lag das Haus plötzlich in all seiner Pracht da, mitten in einem schönen, gepflegten Garten voller Blumen, eine Art angloindischer Bungalow, wie man sie aus Filmen kennt, fast ganz von einer Terrasse umgeben. Es gab ein riesiges Eßzimmer und einen fast genauso großen Wintergarten, der nach Süden schaute, außerdem eine Bibliothek und eine große Diele. Im anderen Flügel lagen vier Schlafzimmer, alle mit Bad, und hinter der Küche hatte die Ayah ihre winzige Wohnung.
Es war das »Sommerhaus« von Hannahs Eltern gewesen. Jetzt wohnte sie das ganze Jahr über hier, und sie mußte sicher ein Vermögen allein für die Heizung blechen.
Hannahs Ayah war eine alte Inderin im Sari, die barfuß im Haus herumlief. In der Stadt hätte sie in dieser Kleidung Aufsehen erregt, aber hier paßte sie gut zu dem indischen Kram und dem vielen Messingzeug, das hier herumstand.
Im Eßzimmer war der Tisch gedeckt, als wir kamen. Was mich am meisten beeindruckte, war, daß es zwölf völlig gleiche Stühle gab. Ich kannte niemanden, der zwölf identische Stühle hatte, nicht einmal Thomas, und dabei war sein Vater Möbelfabrikant.
Die Mädchen hatten, sicher auf ausdrückliche Aufforderung der Lehrer hin, beschlossen, daß wir freitags eine leichte Mahlzeit und nur ein Glas Wein oder Bier bekommen würden, denn schließlich sollten wir an diesem Abend und am Samstagvormittag das kommende Schuljahr planen – in allen Einzelheiten!
Aber schon am Samstagnachmittag nahmen wir Rache dafür, und Samstagabend servierte die Ayah ein Festmahl mit Strömen von Wein, weshalb einige von uns schon vor Mitternacht blau waren. Aber wenn jemand erwartet, daß deshalb etwas Dramatisches passierte, dann wartet dieser Jemand vergeblich. Obwohl das Ganze an diesem Wochenende anfing, geschah nichts, was uns aufgefallen wäre, jedenfalls damals nicht.
Das Wetter war schon seit Tagen ganz phantastisch, wie es im August eben sein kann. Die Dunkelheit umschloß uns warm und samtweich, und darum fand das Fest hauptsächlich im Garten statt. Vielleicht lief deshalb alles ziemlich friedlich ab, aber ich glaube, wie gesagt, auch, daß es etwas mit Hannahs Haus zu tun hatte.
Abgesehen davon, daß alle pausenlos mit