»Das ist ja auch das mindeste, was wir erwarten können«, meinte Mini.
Er hatte sich noch vor Thomas ausgezogen und lief ins Wasser, aber als es ihm bis zum Nabel reichte, brüllte er los, machte mit einem Luftsprung kehrt und kam wieder herausgeplatscht. »Spitze, du Arschloch!« rief er anklagend. »Das ist doch saukalt!« »Ist es nicht, du mußt bloß richtig untertauchen.«
Ich sah ihm nach, als er wieder ins Wasser lief. Er war zwar klein, sah aber nicht mehr aus wie ein Junge. Er wirkte fast erwachsener als wir anderen, mit seiner Matte von schwarzen Haaren auf der Brust. Einer etwas fadenscheinigen Matte zwar, aber immerhin. Er sah aus wie ein erwachsener Mann, nur eben wie ein kleiner Mann.
Thomas kraulte in einer geraden Linie drauflos. Typisch Thomas! Voll ins offene Meer. Alle guten Ratschläge, immer am Ufer entlang schwimmen und so, waren ihm schnurzegal. Er nahm wohl an, daß wir ihn im Notfall retten würden. Oder besser gesagt, er kam erst gar nicht auf die Idee, daß etwas passieren könnte. Ihm doch nicht. Nicht Thomas, the golden boy. Wonderboy! Zähneklappernd kam Mini wieder aus dem Wasser. »Meine Fresse, das war ja vielleicht kalt. Das war verdammt noch mal kein Vergnügen! Ich kann Baden überhaupt nicht ausstehen, ist doch total unnatürlich. Wenn der liebe Gott gewollt hätte, daß wir im Wasser herumplatschen, dann hätte er uns Kiemen und Schwimmhäute zwischen den Zehen verpaßt.«
»Wenn du es so schrecklich findest, warum machst du’s dann?« Mini grinste. »Um nicht als Waschlappen bezeichnet zu werden. Ich mache die schwachsinnigsten Sachen, um nicht Waschlappen genannt zu werden. Das muß ich einfach, weil ich so klein bin. Sag mal, wo zum Teufel will der denn noch hin?«
Er zeigte auf den kleinen Punkt weit draußen, der Thomas’ Kopf war.
»Jetzt macht er kehrt«, sagte ich.
»Leih mir mal dein Handtuch«, sagte Mini und sah sich danach um. Seine Lippen waren blau vor Kälte.
»Ich hab’ kein Handtuch dabei.«
»Kein Handtuch!« rief er vorwurfsvoll. »Du bist mir vielleicht ein Heini! Erst lockst du mich mit haufenweise falscher Reklame ins Wasser, und dann hast du nicht mal ein Handtuch. Ich bring’ dich vor Gericht, wenn ich an Lungenentzündung eingehe!«
»Alles klar. Lauf eine Runde, dann wird dir schon warm.«
Er wetzte zweimal hin und her, dann kam er keuchend und nach Luft schnappend wieder zurück zu dem Stein, auf dem ich hockte, wühlte in seinen Hemdtaschen und zog ein zerknülltes Päckchen Zigaretten hervor.
»Miese Kondition«, stellte ich fest. »Sind das Lisbeths Kippen?« »Ja, es ist ungesund, daß sie so viel raucht«, antwortete er ohne Hemmungen. »Außerdem waren nur noch vier übrig. Aber Hannah hat versprochen, zum Frühstück neue zu besorgen.«
»Für dich ist es genauso ungesund.«
»Weiß ich doch. Wenn ich rauche, wachse ich nicht mehr. Das haben sie mir schon erzählt, als ich gerade mal elf war, und gestimmt hat’s auch.«
Er warf die leere Packung weg.
»Schwein«, sagte ich automatisch.
»Sonst ist es hier gut, was?« fragte er.
»Zu viele Steine«, sagte Thomas, der jetzt auch aus dem Wasser gekommen war und sich neben uns trockenschüttelte.
»Ich meine nicht den Strand. Den könnt ihr von mir aus an die Russen verscheuern. Aber das andere, Haus und Garten und alles. Sie ist einfach steinreich. Geld wie Heu. Dallas kann da nicht mithalten.«
»Du übertreibst wie immer, Mini«, sagte Thomas.
»Kohle hat sie jedenfalls, und nicht zu knapp. Stell dir vor, achtzehn Jahre und den Hintern voll Geld. Sie kann tun und lassen, was ihr gerade paßt. Ach, wenn ich das doch wäre.« »Vielleicht hätte sie lieber ihre Eltern behalten«, meinte Thomas trocken.
»Aber wieso denn?« fragte Mini, und es hörte sich wirklich an, als ob er das ernst gemeint hätte.
Wir gingen im Gänsemarsch den schmalen Strandweg entlang zurück zum Haus. Thomas zuerst, dann Mini und zuletzt ich. Obwohl Thomas und ich jeder für sich genommen ganz normal aussehen, wußte ich doch, daß wir zusammen mit Mini wie Leibwächter wirkten, weil wir fast gleich groß und gleich gebaut waren. Manchmal ging mir das auf den Keks, aber Mini machte es überhaupt nichts aus, im Gegenteil, oft nutzte er es aus. Wenn wir zum Beispiel in der Disco waren und er mit seinem großen, dreckigen Mundwerk auf eine Schlägerei zusteuerte, dann zeigte er bloß auf uns und sagte: »Ihr könnt das mit meinen Freunden klären. Ich schlage mich aus Prinzip nie. Hat mir der Arzt verboten.«
Zum Glück hatte noch nie jemand dieses Angebot wahrgenommen; wir müssen so total abschreckend ausgesehen haben, daß ich immer noch nicht weiß, ob ich mich überhaupt prügeln kann.
Aber natürlich hätten wir es im Notfall gemacht, schließlich waren wir seine Freunde, und wie Mini zu sagen pflegte: »Freunde hat man, um sie zu mißbrauchen.«
Wir drei waren befreundet seit dem Tag, an dem ich zum erstenmal in meiner neuen Klasse gestanden und leicht verloren in all die fremden Gesichter gestarrt hatte. Damals war ich zwölf, wir waren gerade hierher nach Lilleby gezogen, und es war der reine Zufall, daß ich in dieselbe Klasse kam wie Mini und Thomas – und übrigens auch wie Lisbeth.
Freundschaft erinnert auf eine Weise an Verliebtheit. Sie entsteht spontan, fast ehe man sich richtig kennengelernt hat. Es muß mit unserer Chemie zu tun haben, oder mit einer unerklärlichen gegenseitigen Anziehungskraft, die man sofort spürt. Manchmal verschwindet sie ebenso rasch, wie sie gekommen ist, aber richtige Freundschaften halten ewig, glaube ich.
Ich wußte jedenfalls sofort, daß wir drei Freunde werden könnten, und das wurden wir dann ja auch.
Vor allem Thomas und ich. Mini war schon immer ein wenig zu unruhig, zu schwer greifbar gewesen, er hatte zu viele kluge Sprüche drauf und zuviel Hihi, Haha, große Worte und große Gesten. Man konnte nur schwer an ihn herankommen. Außerdem wohnte er auf dem Land, und deshalb sahen wir außerhalb der Schule nicht viel von ihm.
Aber Thomas – mit ihm war es von Anfang an eine richtige Freundschaft. Ich bewunderte ihn auch ein bißchen. Er war dreizehn, hatte die magische Grenze zwischen Kind und Teenie überschritten. Damals hatten die wenigen Monate Altersunterschied eine phantastische Bedeutung.
Wir hatten die gleichen Interessen und die gleichen Ansichten – das heißt, ich übernahm die von Thomas.
Ich fuhr auch mit ihm ins Sommerlager, weil Thomas, der schon öfter dabeigewesen war, das toll fand. Bei meiner ersten Fahrt lernte ich »Hölzchen wachsen« kennen, oder genauer gesagt, eine etwas sozialere Ausgabe dieses Spiels.
Ich stand in unserem Schlafsaal und wollte gerade meinen Rucksack auspacken, als Thomas kam und fragte, ob ich beim Hölzchenwachsen mitmachen wollte.
Ich wußte nicht, was das bedeutete – vieles hier schien in einer Art Geheimsprache abzulaufen. Weil ich das nicht zugeben wollte, antwortete ich einfach nur: »Wo?«
»Zwei Schlafsäle weiter.«
Wir mußten anklopfen und ein Losungswort nennen, und als wir eingelassen worden waren, war mir sofort klar, warum. Dort saßen nämlich ein paar muntere Jungs auf ihren Etagenbetten und holten sich einen runter.
Ich hatte mich verhört. Thomas hatte nicht »wachsen« gesagt, sondern »wichsen«, und dieses Spiel war mir durchaus vertraut, nur hatte ich es noch nie zusammen mit anderen gemacht.
Wir wetteiferten miteinander, und ich schnitt gar nicht schlecht ab, schließlich traf ich zu Hause in meinem Zimmer immer den Papierkorb.
Anfangs hatte ich es im Badezimmer gemacht, aber wenn ich das zu lange blockierte, dann klopfte meine Mutter an die Tür und fragte: »Du piddelst doch wohl nicht an dir herum?«
Nein, das meinte sie nicht damit, sie dachte, ich drückte mir Pickel oder Mitesser aus. Ich wußte nie, was ich antworten sollte, aber ich kann mir vorstellen, daß sie mich in Ruhe gelassen hätte,