Ganz nah und doch so fern - Jugendbuch. Kirsten Holst. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kirsten Holst
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9788726569483
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klang nicht einmal verärgert, nur neugierig.

      »Nein. Jetzt kommst du schon zum viertenmal hier reingeplatzt. Warum mußt du dich ausgerechnet an mir austoben? Warum weckst du nicht lieber Fotto?«

      »Fotto! Das geht doch gar nicht. Der ist voll wie eine Strandhaubitze, schläft wie ein Ochse und schnarcht wie ein Schwein. Außer dir ist in dieser Bude einfach kein Mensch wach und nüchtern.« »Aber du bist doch auch wach – und wie!«

      »Aber nüchtern bin ich nicht.«

      »Warum suchst du dir keinen Schlafplatz? Für ein paar Stunden solltest du dich schon aufs Ohr hauen. Warum wuselst du bloß so rum? Du spukst schon die halbe Nacht wie die Weiße Frau durch die Gegend. Wo steckt denn Søren?«

      »Der pennt.« Sie setzte sich auf den Boden, beugte sich vor und stützte sich auf die Ellbogen, um mich unter dem Flügel hindurch anblicken zu können.

      »Und du hast meine Kippen wirklich nicht gesehen?«

      »Nein, hab’ ich nicht. Das hab’ ich dir schon vor drei Stunden und vor zwei Stunden und vor einer Stunde erzählt. Wo zum Henker sind meine Kippen? Das hat sich wie eine endlose Litanei durch die frühen Morgenstunden gewunden.«

      »Wie poetisch! Was zum Kranich ist eine Litanei?«

      »Ein Klagegesang«, antwortete ich. »Manchmal beeindruckst du mich wirklich, Lisbeth.«

      »Echt?« rief sie erfreut. »Meine Güte, ich hätte so gern eine Kippe! Warum beeindrucke ich dich?«

      »Weil deine Unbildung monumental ist.«

      »Ba!« Sie schnitt mir eine Grimasse. »Bloß weil ich nicht weiß, was eine Litanei ist. Das weiß ja wohl kein normaler Mensch.«

      »Ich schon.«

      »Ja.« Sie grinste, und ich hielt klüglich den Mund. Eine Diskussion mit Lisbeth ist wie ein Gefecht mit einem Spiegelkabinett. Ehe man sich versieht, ist alles verwandelt, verzerrt und total absurd, und am Ende weiß man nicht mehr, ob man selbst oder sie hier völlig verrückt geworden ist.

      Sie kam mit ihrem Gesicht ganz nah an meins heran und hauchte mir ihren Fuselatem voll in die Nase, während sie eindringlich fragte: »Hast du meine Kippen wirklich nicht gesehen?« Ich holte tief Luft und wollte gerade mit gewaltigem Nachdruck losreden, als sie mir zuvorkam: »Gut! Gut! Reg dich ab! Du hast sie also nicht gesehen, und das hast du mir schon viermal oder vierhundertmal oder viertausendmal erzählt, aber irgendwer hat sie geklaut. Ich finde es ganz schön übel, andrerleuts Kippen zu mopsen, wo wir hier draußen mitten im ödesten Niemandsland sitzen und nicht einmal die kleinste Fluppe aufzutreiben ist.«

      »Aber deshalb brauchst du dich doch nicht so anzustellen! Als ich ins Haus gegangen bin, hattest du eine Zigarette in der Hand, du hast also vor vier Stunden erst geraucht.«

      »Vor vier Stunden erst! Ein halbes Fest ohne Kippen! Das ist einfach zu arg. Aber du kannst das natürlich nicht raffen, du bist ja so verdammt heilig und rauchst selber nicht. Ich möchte wetten, das war Mini, dieser elende kleine Mistkerl! Das würde ihm ähnlich sehen. Der hatte schon vor Mitternacht alles weggepafft, und trotzdem hatte er immer eine Kippe in der Hand, wenn ich ihn gesehen habe. Aber meinst du, er hätte mich auch nur einmal ziehen lassen? Er ist ein richtiger kleiner Stinker, und ein Miststück von einem Dieb.«

      »Geh jetzt schlafen, Lisbeth«, sagte ich müde.

      »Willst du denn nicht reden?«

      »Nicht über deine Zigaretten.«

      »Na gut, worüber reden wir dann?«

      »Über nichts. Ich will das Buch hier auslesen.«

      »Hast du heute nacht ein ganzes Buch gelesen?« rief sie ungläubig. »Ich sag’ ja immer, du bist einfach knatschverrückt.«

      »Außerdem können meine zarten Nerven zu dieser Tageszeit deine Sprache nicht verkraften. Du hörst dich ja fast genauso übel an wie Mini!«

      »Zarte Nerven! Du hast überhaupt keine Nerven. Du hast nicht einmal Gefühle. Dir ist es scheißegal, daß irgendwer meine Kippen geklaut hat.«

      »Na und?«

      »Du bist vielleicht öde«, sagte sie und stand auf. »Ich muß wohl Søren wecken gehen und in seinen Armen Vergessen suchen.« »Hau schon ab!« antwortete ich müde.

      Sie lachte und rappelte sich hoch.

      Ich sah ihr nach, als sie zur Tür ging. Ich wäre so gern in Lisbeth verliebt gewesen. Das hätte alles viel einfacher gemacht. Jetzt hatte sie zwar Søren, aber früher hatte sie sich für mich interessiert. Das war in der neunten Klasse, doch damals kümmerte mich das alles noch nicht. Ich bin eben immer schon ein bißchen langsam gewesen.

      Mit Lisbeth wäre alles so leicht. Sie sagt, was sie denkt und fühlt und meint; sie schreit es fast von den Dächern. Und für sie ist Sex so natürlich und notwendig wie das Atmen. Ich wäre bestimmt schon längst nicht mehr Jungfrau, wenn ich mich in sie verliebt hätte. Sie war nur einfach nicht mein Typ. Vielleicht kannte ich sie zu gut. Sie war lieb, sie war verrückt, sie war nicht so dumm, wie sie vorgab, und ich mochte sie wirklich von allen Mädchen am besten leiden, aber ich hätte mich niemals in sie verlieben können.

      Ich fand sie auch zu groß und grob – in jeder Hinsicht. Sie war zu sehr wie ein Junge. Obwohl sie lange blonde Haare hatte, hatte sie nichts vom »blonden Dummchen«; mit ihren hellen Nasenhaaren, der Flachsmähne und den fast weißen Wimpern und Augenbrauen über meeresblauen Augen sah sie eher aus wie ein junger Wikinger. Ihre Figur war schon feminin, mit großen Brüsten, breiten Hüften und kräftigen Oberschenkeln. Sie war ziemlich attraktiv, wenn man diesen Typ mochte. Søren ging das so. Er war nicht bloß scharf auf sie, sondern total schwachsinnig lallend verschossen, so sehr, daß es manchmal fast komisch wirkte.

      Ich fragte mich, ob ich mit meiner lächerlichen Verliebtheit in Agathe wohl auch so komisch wirkte. Und das tat ich bestimmt.

      Ich seufzte, legte mich zurecht und machte mich an die letzten Seiten.

      4

      Die Sonne war schon ein ganzes Stück über den Horizont gestiegen, als ich nach dem Laufen am Strand ankam. Sie verteilte großzügig Goldflecken auf dem Wasser, es funkelte und glitzerte, und ich mußte die Augen zusammenkneifen. Ich setzte mich auf einen großen Stein, um zu verschnaufen und mich etwas abzukühlen, ehe ich in die Wellen sprang. Als ich in der fünften Klasse war, hatte ich einen Schulkameraden, der nach einer langen, heißen Radtour sofort ins Wasser gewetzt war und nie mehr herauskam. Seither war ich vorsichtig. Hoch oben über mir schrien sich die Möwen die neusten Fischkurse zu, aber abgesehen von ihren langen, scharfen Schreien war alles so still, daß ich hören konnte, wie die Wellen über den Strand züngelten.

      Es war ein schöner Morgen, und ich saß eine Weile da und genoß ihn einfach, aber dann begann ich zu frösteln, denn die Luft war noch ziemlich kalt, obwohl es später sicher heiß werden würde. Rasch zog ich mich aus, rannte in großen Sprüngen durch das seichte Wasser, warf mich auf den Bauch und kraulte los. Nach der kalten Luft kam mir das Wasser fast warm vor. Warm und doch sauber. Aber natürlich konnte es trotzdem verschmutzt sein. Ein Stück weiter die Küste hinunter war Badeverbot erlassen worden. Ich stand wieder am Strand und zog mich gerade an, als Thomas und Mini den Strandweg hinunterkamen. Thomas’ 191 Zentimeter ragten über Minis 170 auf. Sie sahen aus wie Pat und Patachon.

      »Warst du schon schwimmen?« rief Mini von weitem.

      »Ja.«

      »Und wie war’s?«

      »Spitze!«

      »Du hast deine Uhr ja anbehalten«, sagte Mini, als sie bei mir angekommen waren.

      »Die ist wasserdicht und so stabil, daß ich sogar zwischen Korallen tauchen kann, ohne daß etwas kaputtgeht.«

      »Na, das muß ja rasend nützlich für dich sein«, grinste Mini. »Ist die nicht kalt?«

      »Die Uhr?«

      »Die