Ganz nah und doch so fern - Jugendbuch. Kirsten Holst. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kirsten Holst
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9788726569483
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kein Unfall, niemand lief Amok und bearbeitete die kostbaren Teppiche mit dem Rasenmäher oder warf mit den Möbeln um sich.

      Ich war nicht blau, ich betrinke mich nie. Deshalb half ich Fotto aufs Klo, als ihm schlecht wurde. Es war harte Arbeit, denn er ist zwar kleiner als ich, aber anderthalbmal so schwer. Er ist um die 1 Meter 80 groß und wiegt hundert Kilo. Er frißt und säuft wie ein Schwein, und zu irgendeinem Zeitpunkt wird ihm immer schlecht. Trotzdem machen wir uns nie über ihn lustig, anscheinend haben wir uns also an ihn gewöhnt. Die einzige Anspielung auf seine Fülle ist sein Name. Fotto bedeutet ursprünglich »fetter Otto«, aber ich glaube, auch daran erinnert sich kaum noch jemand.

      Als er seine angeregte Unterhaltung mit der Kloschüssel beendet hatte, schleppte ich ihn in den Wintergarten und ließ ihn auf das helle Ledersofa fallen. Ich zog ihm die Schuhe aus, tippte ihn mit einem Finger an, worauf er umkippte, und deckte ihn zu. Ich hoffte, daß er sich jetzt leergekotzt hatte, denn dem hellen Sofa und den echten Teppichen würden solche Attacken sicher nicht gut bekommen.

      Dann suchte ich mir meinen Schlafsack, brachte ihn in den Wintergarten, rollte ihn aus und stellte eine Tischlampe auf den Boden, weil ich noch lesen wollte. Mit einem Buch, das ich in einem Regal in der Bibliothek gefunden hatte, machte ich es mir unter dem Flügel gemütlich.

      Die anderen kamen jetzt nach und nach ins Haus und beschlagnahmten die Schlafzimmer – paarweise oder in Gruppen. Irgendwer lärmte immer noch am Schwimmbecken herum, aber ich mochte nicht nach draußen gehen. Ich kann gut darauf verzichten, mit Leuten zusammenzusein, die sternhagelvoll sind.

      Ich las, Fotto schnarchte, und nach und nach wurde es fast im ganzen Haus still.

      3

      Durch Fottos Schnarchen hindurch konnte ich die Uhr auf dem Kaminsims die Sekunden verticken hören. Es hörte sich an wie eine alte Jungfer, die eifrig, aber völlig sinnlos die Nacht in kleine Scheibchen schnitt. Schnipp-schnapp, schnipp-schnapp.

      Jetzt räusperte die Uhr sich leise, zögerte kurz und schlug dann. Ich zählte die Schläge. Sechs. Unwillkürlich schaute ich auf meine Uhr, eine Rolex, die mein Vater mir zur Konfirmation geschenkt hatte. Wahrscheinlich hatte er sie in irgendeiner obskuren Kneipe billig erstanden, aber die Uhr war in Ordnung, sie ging auf die Sekunde genau, wie auch die Uhr auf dem Kaminsims. Natürlich. Es war unvorstellbar, daß in Hannahs Haus irgend etwas nicht ordnungsgemäß funktionierte.

      Ich drehte mich mühselig um. Ich lag nun schon seit vier Stunden hier unter dem Flügel und fühlte mich am ganzen Körper wie gerädert. Außer Lisbeth hatte mich niemand gestört. Sie hatte mehrfach hereingeschaut, um zu fragen, ob ich ihre Zigaretten gesehen hätte. Jedesmal hatte ich schon lange vorher ihre Klagerufe gehört: »Wer zum Henker hat meine Kippen geklaut? Wer zum Henker hat meine Kippen geklaut?«

      Ich hatte nur noch zehn Seiten zu lesen. Ich hatte gelesen und gelesen und gelesen und gelesen. Vier Stunden lang. Die Flucht des Hirsches von Christian Winther. Ein richtig berühmtes klassisches Werk, an die hundertfünfzig Jahre alt, glaub’ ich. Natürlich hatte ich schon oft von diesem Buch gehört, aber ich hatte es nie näher angeschaut, deshalb hatte ich keine Ahnung, worum es da ging, als ich mich hinlegte und das Buch aufmachte. Ich wäre fast wieder aufgestanden und hätte mir in der Bibliothek ein anderes Buch geholt, als ich entdeckte, daß das ja Reime waren, richtige altmodische Herz-und-Schmerz-Reime. Ich lese eigentlich ganz gern Gedichte, doch diese hier wirkten einen Tick zu verstaubt.

      Aber ich hatte einfach keinen Nerv mehr, wieder aufzustehen, und außerdem dachte ich, ich würde bestimmt ganz toll davon einschlafen können. Also überflog ich ohne große Begeisterung die ersten Seiten. Und dann war ich von der Geschichte plötzlich gefangen. Es war ja ein Roman in Reimen, wer hätte das ahnen können? Und der Dichter verstand sein Handwerk wirklich. Ich hatte richtig fühlen können, wie sich die kleinen Haare in meinem Nacken sträubten, als ich die Strophe zu Anfang des Buches gelesen hatte:

      Die Zeit der Ritter und die Zeit der Gilden

      hat mir die Sinne, hat mein Herz entfacht.

      Des Haders viel – es blitzte von den Schilden,

      es stieg der Hengst und wetterte zur Schlacht;

      doch auch mit weichen, zartgestimmten Tönen

      aus jener Zeit kann ich das Herz versöhnen.

      Es gab Handlung und Spannung, viel Liebe, glückliche wie unglückliche, es gab Treue und Verrat und eimerweise Tränen, es gab sogar Sex, und das verblüffte mich sehr. Aus irgendeinem Grund ist es nur schwer vorstellbar, daß es Sex schon in alten Zeiten gegeben hat; das kommt einem genauso merkwürdig vor wie der Gedanke, daß die eigenen Eltern ein Sexualleben haben. Einige von ihnen jedenfalls.

      Es war ein seltsamer Zufall, daß mir das Buch ausgerechnet in dieser Nacht in die Hände gefallen war, denn es war vielleicht die einzige Nacht in meinem Leben, in der ich es lesen konnte. Wegen der Stimmung, der Stimmung der Nacht und meiner eigenen, und weil ich Agathe hatte – oder besser gesagt, weil ich sie nicht hatte. Sie haßte mich nämlich offenbar immer noch.

      Draußen wurde es langsam hell. Ich knipste die Lampe aus und sah in den Garten hinaus, wo Bäume und Büsche morgengrau und unbeweglich standen, als ob sie noch nicht ganz wach wären, oder wie Tänzer, die in starrer Haltung darauf warten, daß das Rampenlicht eingeschaltet wird.

      Kein Wind rührte sich, und am blassen Himmel war keine einzige Wolke, es würde also ein ebenso prachtvoller Tag werden wie gestern.

      Wenn ich das Buch ausgelesen hätte, wollte ich ausgiebig laufen und ans Meer zum Schwimmen gehen, um meine Knochen wieder an ihren richtigen Platz zu schütteln, sie schienen unter meiner Haut wild durcheinandergeraten zu sein.

      Ich knipste die Lampe wieder an, legte mich besser zurecht und versuchte, eine halbwegs bequeme Position zum Liegen zu finden. Ich hatte gerade wieder angefangen zu lesen, als eine durchdringende, klagende Stimme mich geradezu aus dem Buch herausheulte. »Wer zum Henker hat meine Kippen geklaut?«

      Wieder Lisbeth. Mußte dieses wahnsinnige Weibsbild denn nie schlafen? Rasch löschte ich das Licht, schloß die Augen und stellte mich schlafend. Vielleicht war das eine überflüssige Sicherheitsmaßnahme, vielleicht würde sie dieses Zimmer erst gar nicht betreten. Sie konnte sich doch verflixt noch mal selber sagen, daß ich ihre Zigaretten weder vor drei noch vor zwei noch vor einer Stunde und folglich auch jetzt noch nicht gesehen hatte.

      Das konnte sie nicht.

      Im nächsten Moment wurde die Tür aufgerissen, und Lisbeth kam wie ein gereizter Zyklop ins Zimmer getrampelt.

      »Wer zum Henker hat meine Kippen geklaut?«

      Die Schritte näherten sich dem Flügel und hielten neben mir inne. »Claus!« Sie trat mich mit fünf langen, harten Zehen in meine wunden Rippen. »Knackst du?«

      Ja, ich schlief. Das konnte sie doch wohl sehen, die blöde Kuh.

      Sie trat ein bißchen fester, bohrte ihre Zehen zwischen meine Rippen, und ich hätte fast laut aufgestöhnt.

      »Knackst du?« wiederholte sie ungeduldig.

      Dann schwieg sie erwartungsvoll, und ich kniff meine Augen fest zusammen.

      »Claus, zum Teufel, du elender Blödi, ich weiß genau, daß du nicht knackst. Du tust bloß so! Wenn du wirklich schlafen würdest, dann wärst du jetzt aufgewacht.«

      Ich unterdrückte ein Grinsen. Das war typische Lisbethlogik.

      Sie trat mich immer noch in die Seite, es schien fast automatisch abzulaufen. Ich konnte genausogut aufgeben.

      »Okay, dann schlaf’ ich eben nicht«, sagte ich und schlug die Augen auf.

      »Ich hab’s ja gewußt. Du siehst übrigens ganz schön niedlich aus, wenn du knackst – auch wenn du gar nicht wirklich knackst. Was machst du hier?«

      »Ich lese.«

      »Du kannst doch wohl nicht die ganze Nacht lesen – und bei dem Licht! Hier unter dem Flügel ist es doch stockfinster!«

      »Ich