Dieser ernste Ton, bei dem sich Wut mit Ironie färbt, verrät eine Sorge mit manchmal apokalyptischen Akzenten, wenn Arendt diagnostiziert, das »radikal Böse« liege im »pervertiert-bösen Willen« (im Kantischen Sinne), die Menschen »überflüssig zu machen«: Anders gesagt zerstört der Mensch des vergangenen ebenso wie des latenten Totalitarismus das menschliche Leben, nachdem er den Sinn eines jeden Lebens beseitigt hat, einschließlich seines eigenen. Schlimmer noch, diese »Überflüssigkeit« des menschlichen Lebens, die die Historikerin mit Nachdruck im Aufschwung des Imperialismus festmacht, verschwindet nicht – im Gegenteil – in den modernen Demokratien, die von der Automatisierung überrollt werden: »…wir können immerhin feststellen, daß dieses radikal Böse im Zusammenhang eines Systems aufgetreten ist, in dem alle Menschen gleichermaßen überflüssig werden. Die totalen Machthaber sind von ihrer eigenen Überflüssigkeit genauso überzeugt wie von der aller anderen, und die totalitären Henker sind so gefährlich, weil es ihnen offenbar einerlei ist, nicht nur ob sie leben oder sterben, sondern ob sie je geboren wurden oder niemals das Licht der Welt erblickten. Die ungeheuere Gefahr der totalitären Erfindungen, Menschen überflüssig zu machen, ist, daß in einem Zeitalter rapiden Bevölkerungszuwachses und ständigen Anwachsens der Bodenlosigkeit und Heimatlosigkeit überall dauernd Massen von Menschen im Sinne utilitaristischer Kategorien in der Tat ›überflüssig‹ werden. Es ist, als ob alle entscheidenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Tendenzen der Zeit in einer heimlichen Verschwörung mit den Institutionen sind, die dazu dienen könnten, Menschen wirklich als Überflüssige zu behandeln und zu handhaben.«7
Angesichts dieser Drohung erhebt sich eine vehemente Verteidigung des Lebens in der Vita activa8. Als Gegenpol zum – in der vitalistischen Hartnäckigkeit der Konsumideologie und von der in den Dienst des »Lebensprozesses« gestellten modernen Technik – platt reproduzierten Leben stimmt Arendt eine Hymne auf die Singularität einer jeden beliebigen Geburt an, die fähig ist, das zu eröffnen, was sie ohne Zögern das »Wunder des Lebens« nennt: »Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und von dem Verderben rettet, das als Keim in ihm sitzt und als ›Gesetz‹ seine Bewegung bestimmt, ist schließlich die Tatsache der Natalität, das Geborensein, welches die ontologische Voraussetzung dafür ist, daß es so etwas wie Handeln überhaupt geben kann […] Das ›Wunder‹ besteht darin, daß überhaupt Menschen geboren werden, und mit ihnen der Neuanfang, den sie handelnd verwirklichen können kraft ihres Geborenseins. Nur wo diese Seite des Handelns voll erfahren ist, kann es so etwas geben wie ›Glaube und Hoffnung‹, also jene beiden wesentlichen Merkmale menschlicher Existenz, von denen die Griechen kaum etwas wußten […] Daß man in der Welt Vertrauen haben und daß man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien ›die frohe Botschaft‹ verkünden: ›Uns ist ein Kind geboren.‹«9
Heute fällt es uns schwer zu akzeptieren, daß das Leben, der heilige Wert der christlichen und nachchristlichen Demokratien, die junge Frucht einer historischen Entwicklung sein soll, und zu begreifen, daß es bedroht sein könnte. Doch eben die Frage nach diesem Grundwert, nach seiner Herausbildung in der christlichen Eschatologie und den Gefahren, die er in der modernen Welt läuft, durchzieht das Werk Arendts von einem Ende zum anderen – von ihrer Dissertation über Augustin bis zum unvollendeten Manuskript über die Urteilskraft –, wenn sie dieses Werk nicht sogar heimlich strukturiert.
1Brief von Hannah Arendt an Karl Jaspers vom 24. März 1930, in: Hannah Arendt, Karl Jaspers, Briefwechsel 1926-1969, München, Zürich 1985, S. 48
2Berlin 1929
3Julia Kristeva benutzt hier – im Französischen ebenso wie im Deutschen vom üblichen Sprachgebrauch abweichend – das Verb agir/handeln transitiv. In diesen Kontext gehört eine Bemerkung Hannah Arendts, die möglicherweise einen gewissen Einfluß auf diesen Sprachgebrauch Kristevas gehabt haben mag: »Dies Denken hat eine nur ihm eigene bohrende Qualität, die, wollte man sie sprachlich fassen und nachweisen, in dem transitiven Gebrauch des Verbums ›denken‹ liegt. Heidegger denkt nie ›über‹ etwas; er denkt etwas« (Hannah Arendt, Menschen in finsteren Zeiten, hg. v. Ursula Ludz, München 1989, S. 175). (Anm. d. Übers.)
4Mehrere Veröffentlichungen, Kolloquien und Sondernummern von Zeitschriften sind dem Werk Hannah Arendts gewidmet. Besonders hervorzuheben sind: Social Research, Nr. 44/1977; Esprit, Juni 1980; Les Etudes phénoménologiques Nr. 2/1985; Les Cahiers du Grif, Herbst 1986; Les Cahiers de philosophie Nr. 4/1987; Kolloquium des italienischen Instituts für philosophische Studien in Neapel, 1987; Politique et pensée. actes du colloque international de philosophie 1988, Paris 1989 (Nachdruck bei Payot & Rivages, Paris 1996); Hannah Arendt et la modernité. annales de l’Institut de philosophie de l’Université libre de Bruxelles, Paris 1992; colloque international (Genf 1997), Bd. 1: Les Sans-Etat et le droit d’avoir des droits; Bd. 2: La Banalité du mal comme mal politique, Paris, Montréal 1998.
5Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, 2. Aufl. 1991, S. 502 (Hervorheb. v. mir, J. K.)
6Ebd., S. 511 (Hervorheb. v. mir, J. K.)
7Ebd., S. 702 (Hervorheb. v. mir, J. K.)
8Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 1981, 11. Aufl. 1999
9Ebd., S. 316-317
1. Eine »derart exponierte« Biographie
Bevor wir die wichtigsten Etappen der Erkundung des Begriffs des Lebens bei Arendt nachvollziehen, sollen einige Hauptmomente ihres Lebens evoziert werden, so wie die Biographen es wiedergeben.10
Wie sie 1930 Jaspers schrieb, handelt es sich bei diesem Leben um eine »exponierte« Existenz, die in der Tat Hannah Arendt derart zu bedingen scheint (wir werden auf den Sinn dieser »Bedingung« zurückkommen, wie sie in der Vita activa definiert ist), daß sie – Leben und Werk ineinander verzahnt – eine »Objektivation« oder ein »Knotenpunkt« des »Lebens« wird.
Hannah Arendt, 1906 in Linden bei Hannover geboren, ist die Tochter von Paul Arendt und Martha Cohn. Die Arendts sind eine »alte Königsberger Familie«, wie die Philosophin in ihrem Fernsehinterview von 1964 mit Günter Gauss erwähnt.11 Als reformierte Juden und Bewunderer von Hermann Vogelstein, einem der berühmtesten Führer der liberalen jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, zeigen sie sich gegenüber den Zionisten kritisch, empfangen jedoch Kurt Blumenfeld, den künftigen Vorsitzenden der deutschen zionistischen Organisation. Er wird mit der kleinen Hannah bei ihrem Großvater Max spielen und sie in der Bejahung ihrer jüdischen Identität bestärken. Jacob Cohn, der Großvater mütterlicherseits (im heutigen Litauen geboren), machte aus dem Familienunternehmen die bedeutendste Firma für den Import russischen Tees nach Königsberg (vorher war der englische Tee marktführend). Unter den Cohns gab es viele »großzügige und sensible« Witwen, wie die Großmutter Fanny Spiero-Cohn, zweite Frau Jacobs, die sich gern slawisch kleidete und Deutsch mit russischem Akzent sprach.
Paul Arendt arbeitete als Ingenieur mit einem in Alberta erworbenen Diplom in einer Gesellschaft für elektrische Ausrüstungen; Martha studierte Französisch und Musik während eines dreijährigen Aufenthaltes in Paris. Beide hegten Sympathien für die deutschen Sozialdemokraten und teilten die Goetheschen Ideale der deutschen Bildungselite. Die jüdische Identität war auf natürliche Weise in der Familie gegenwärtig, während die christliche Kultur durch Ada, das Kindermädchen, das sich um Hannah kümmerte, eindrang. Von Geburt ihrer Tochter an führen die Arendts ein Heft Unser Kind, das ihre Entwicklung festhält und in dem sich die scharfsinnigen Bemerkungen von Martha, der aufmerksamen Mutter, der nichts entgeht, herausheben: Als Einjährige »liebt es Hannah sehr, wenn es lebhaft um sie herum zugeht«; Mit anderthalb ist es »in der Hauptsache […] ihre Sprache die sie sehr geläufig hersagt. Versteht alles.«; mit zwei