Tanja Noy
Höllenfrost - Ein Fall für Julia Wagner: Band 3
Für Katja.
Immer.
Saga
Höllenfrost - Ein Fall für Julia Wagner: Band 3Coverbild/Illustration: Sutterstock Copyright © 2015, 2020 Tanja Noy und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726643084
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
TEIL 1
Zwei Jahre zuvor.
Oktober 2008
Sonntagmorgen, kurz nach 7:00 Uhr
Zander war als Erster am Tatort, der sich in einem Park befand, hinter einer Brücke mit einem Steinbogen und einem schmiedeeisernen Geländer. Die Kollegen hatten bereits sämtliche Eingänge abgeriegelt. Ein halbes Dutzend uniformierter Polizisten stand Schulter an Schulter innerhalb des abgesperrten Bereiches, um den Tatort so gut wie möglich vor neugierigen Blicken zu schützen.
Als Julia endlich bei ihm ankam, warf Zander einen ungeduldigen Blick auf seine Armbanduhr. „Das wird aber auch Zeit.“
„Das ist eigentlich mein freies Wochenende.“ Sie deutete mit dem Daumen hinter sich auf eine Horde Schaulustiger, die sich alle Mühe gab, etwas von dem mitzubekommen, was sich hier abspielte. „Haben die alle kein Bett, in dem sie liegen können?“
„Das sind noch die Harmlosen. Für die wirklich Irren ist es noch zu früh.“ Zander schüttelte den Kopf. „Dabei wollen die das garantiert nicht sehen.“
„Will ich es sehen?“
„Nein, aber du musst. Komm mit.“
Sie gingen in Richtung Bach und überquerten die Brücke.
„Noch hast du Zeit für drei Ave-Marias“, bemerkte Zander. „Als gutes katholisches Mädchen hilft es dir vielleicht.“
Julia warf ihm einen kurzen Blick zu. „Das denke ich nicht.“
Auf der anderen Seite des Baches gingen sie noch ein paar Meter, dann erstarrte Julia in der Bewegung.
Als hätte jemand auf einen Pausenknopf gedrückt.
Einen Moment hörte sie nur ihr Herz schlagen und das Blut in ihren Ohren rauschen. Sie schloss die Augen und zählte bis fünf, doch als sie sie wieder öffnete, war das Bild immer noch da.
Die Leiche war völlig verkohlt, und es stank erbärmlich. Das, was einmal ein Mensch gewesen war, saß aufrecht, mit dem Rücken an die Eisenstange eines Schildes gelehnt, welches darauf hinwies, dass Hunde diesen Teil des Rasens nicht betreten durften. Es hatte kaum mehr Menschliches an sich. Haare und Gesichtszüge waren weggebrannt, lediglich ein Rachen aus einem unvollständigen Gebiss war übrig. Jegliche Kleidung war zu Asche geworden. Die verkohlten Arme waren auf merkwürdige Art und Weise links und rechts zur Seite gestreckt, was es im ersten Moment wie eine besonders perverse Kreuzigung wirken ließ. Oder wie ein abstraktes Kunstwerk, das den Wahnsinn seines Schöpfers in die Welt schrie.
Jemand berührte Julia, sie wandte sich jäh um.
„Alles in Ordnung?“, fragte Zander.
Sie nickte.
„Ich rede mal mit den Kollegen. Du willst bestimmt ein bisschen eintauchen, oder?“
Noch einmal nickte Julia und sah ihm nach, wie er auf einen uniformierten Kollegen zuging und mit ihm sprach. Dann wandte sie sich wieder der Leiche zu, atmete tief durch und bereute es sofort. Sie blinzelte. Ein weiteres Leben war vorbei, ausgelöscht. Sie blinzelte noch einmal, schob das vertraute Aufwallen von Mitleid und Trauer an den Rand ihres Bewusstseins, zu all den anderen Gefühlen.
So stand sie einen Moment vollkommen still und betrachtete den Wahnsinn vor ihren Augen. Bei jeder neuen Leiche durchfuhr Julia derselbe Gedanke: Warum tun Menschen so etwas einander an?
Sie riss sich zusammen, konzentrierte sich auf den Tatort, und stellte fest, dass die Füße der Leiche von den Knöcheln abwärts erstaunlicherweise unversehrt waren, beide steckten noch in roten, hochhackigen Pumps. Den Rest der Beine hatte das Feuer zu dunklem Bernstein verfärbt, danach waren sie schwarz und von der Hitze rissig geworden.
Sie machte einen kleinen Bogen um die Leiche, suchte eine andere Perspektive. Wieder am Ursprungsort angekommen, ging sie in die Hocke und kniff die Augen zusammen.
„Und?“, sagte Zander, als er ein paar Minuten später wieder bei ihr ankam. „Was denkst du?“
„Sieht aus wie eine Bühne“, antwortete sie.
„Das dachte ich auch. Das hat was Rituelles.“
„Hoffentlich nicht. Derart motivierte Mörder neigen dazu, es nicht bei einem Opfer zu belassen.“ Julia deutete auf die roten Pumps. „Wie hat er es geschafft, dass die Füße unversehrt geblieben sind?“
„Keine Ahnung.“ Zander zog ein Taschentuch aus der Innentasche seines Jacketts und fuhr sich damit über die Stirn. „Ich kann mir keinen Fall vorstellen, in dem ein Körper so verbrennen kann, ohne dass ein Brandbeschleuniger benutzt wurde. Ich tippe auf Benzin.“
„Hmm. Und warum hat er sie an die Stange gelehnt, ehe er sie anzündete?“
„Er hat sie in Position gebracht.“
„Aber warum?“
„Das werden wir den Mistkerl fragen müssen, wenn wir ihn haben.“
Julia richtete sich auf und rieb sich über die Nase. Der Gestank setzte ihr immer mehr zu. „Wer hat die Leiche gefunden?“
„Eine Joggerin.“
„Hast du mit ihr gesprochen? Hat sie etwas gesehen?“
„Ich konnte nicht mit ihr sprechen. Ich habe es versucht, aber sie steht unter Schock. Ich habe veranlasst, dass man sie in ein Krankenhaus bringt.“
„Wann hat sie die Polizei alarmiert?“
„Um kurz nach sechs Uhr ging der Notruf ein. Als die Kollegen eintrafen, glühte noch die Asche.“
„Das heißt, die Tat war einige Zeit zuvor geschehen.“
Zander nickte, und Julia drehte sich einmal um die eigene Achse, ließ den Blick über das weitläufige Gelände schweifen. „Verbrennt sie genau hier, wo er sicher weiß, dass sie schnell gefunden wird. In einem öffentlichen Park. Ganz schön arrogant.“
„Vielleicht eine Art Stellungnahme. So etwas wie: Seht her, was ich getan habe!“
„Könnte sein. Was haben wir sonst? Wissen wir, wer das Opfer ist?“
„Nein. Aber wir können wohl annehmen, dass es sich um eine Frau handelt. Die roten Pumps und die schmalen Füße sprechen zumindest dafür.“
In diesem Moment meldete ein Kollege, eine Handtasche gefunden zu haben. Sie war klein und zylindrisch, goldfarben, mit gläsernen Steinen besetzt. Zander nahm sie entgegen, öffnete sie und fand darin einen hellroten Lippenstift, eine Puderdose, zwei Fünfzigeuroscheine und zwei Kondome. Keine Spur von Führerschein oder Ausweis. Ebenso wenig war ein Handy zu finden. „Hier ist noch was“, sagte er und hielt eine kleine Goldmünze in die Höhe. „Die sieht ziemlich alt aus. Sieh mal, wie abgenutzt sie ist. Könnte ein Talisman sein. Etwas, das Glück bringen sollte.“
„So viel zum Thema Glücksbringer.“ Julia wandte sich ab. Der Gestank war jetzt kaum noch auszuhalten. Ihr war schlecht.
Der Kollege, der die Tasche gefunden hatte, bemerkte in ihre Richtung: „Na, nimm dir das mal nicht so zu Herzen. Shit happens.“