»Und wann?«, fragte sie.
Noch ein Seufzer, gefolgt von einem Schulterzucken. »Morgen?«
»Morgen?«, krächzte sie.
»Wenn nicht morgen, wann dann?«
Susanna warf ihm einen raschen Seitenblick zu. »Seit wann bist du so philosophisch?«
Jacks Mundwinkel verzogen sich zu einem verschmitzten Lächeln, aber er sagte nichts. Das Zischen und Fauchen draußen ging in ein leises, unablässiges Grollen über, als immer mehr Dämonen sich über dem Schutzhaus sammelten.
»Feuer machen?«, fragte Jack. Ohne ihre Antwort abzuwarten, stand er auf und ging zum Fenster. Dann widmeten sie sich ihrem nächtlichen Ritual. Susanna kauerte am Ofen und fachte mithilfe ihrer Seelenfahrerkräfte – die sie zum Glück nicht verloren hatte – ein Feuer in dem kleinen Holzstapel an, während Jack die Vorhänge schloss, damit die schemenhaft am Fenster vorbeihuschenden Dämonen sie nicht sehen konnten. Als sie fertig waren, kehrten sie zum Sofa zurück, und wie immer streckte Jack sich an der Rückenlehne aus, während sie ihren üblichen Platz vor ihm einnahm. Dann schlang er seine Arme um sie und sie schlossen die Augen.
Die ersten paar Male war ihnen dieses Arrangement ziemlich unangenehm gewesen, aber wenn sie sich hinlegen wollten, gab es keine Alternative, außer dem kalten Fliesenboden. Anfangs hatten sie kaum zu atmen gewagt und sorgfältig darauf geachtet, einander nicht zu berühren, bis Jack schließlich genug von dem Spiel hatte und knurrend seine Arme um sie legte. »Ich beiße nicht, okay?« Damit war alle Befangenheit zwischen ihnen verflogen und sie schliefen jetzt immer so. Obwohl sie eigentlich keinen Schlaf brauchten – Jack war tot und Susanna eine Seelenfahrerin –, aber auf diese Weise konnten sie ihrem Dasein im Schutzhaus eine gewisse Struktur verleihen. Den gewohnten Tag-und-Nacht-Rhythmus einhalten.
Außerdem war es mittlerweile die einzige Art, wie Susanna sich entspannen konnte. Dabei war sie doch die Seelenfahrerin und nicht Jack – aber in seinen Armen fühlte sie sich stärker, sicherer. Sie wusste selbst nicht, was sie davon halten sollte.
Wenn das Feuer langsam herunterbrannte und der Raum dunkler wurde, konnten sie einen Hauch von Ungestörtheit, von Alleinsein genießen, indem sie sich einredeten, dass der andere schlief.
Und seltsamerweise träumte sie seit ihrer Rückkehr ins Niemandsland, aus welchen Gründen auch immer. War es eine absurde Wendung ihres Schicksals oder eine grausame Strafe des Inquisitors? Na ja, Träumen war vielleicht nicht der richtige Ausdruck dafür, aber wie sollte sie es sonst nennen? Sie schlief nicht, wurde jedoch von Erinnerungen überrollt, die sie im Dunkeln bedrängten, und schaute dann hilflos weg, bis diese quälenden Visionen verflogen waren und sie wieder in die relative Sicherheit des Schutzhauses zurückkehrte.
»Willst du reden?«, fragte Jack leise an ihrem Ohr.
Sie schüttelte den Kopf, in dem Wissen, dass er die Bewegung wahrnehmen würde, auch wenn er sie im schwachen Feuerschein nicht sehen konnte.
»Das hilft nicht«, sagte sie.
Jack drückte sie mitfühlend an sich. Keine Chance, ihre Träume vor ihm zu verbergen; sie schreckte ja meist zitternd und schluchzend daraus hoch.
»Vielleicht träumst du heute Nacht gar nicht«, tröstete er sie.
»Vielleicht«, murmelte sie skeptisch. Das Gespräch mit Jack, seine Entschlossenheit wirkten noch lange in ihr nach, während die Dämonen draußen sie in den Schlaf sangen. Und natürlich würde sie träumen. Die Frage war nur, welche ihrer Erinnerungen sie diesmal aus Jacks Armen reißen und in eine Hölle aus Schmerz und Angst schleudern würde.
Langsam stieß sie die Luft durch ihre geschlossenen Lippen aus, ließ die Augen zufallen und versuchte, sich zu entspannen.
Der Wind heulte, kämpfte mit den Dämonen und füllte ihre Ohren. Sie war verwirrt, orientierungslos.
Aber sie wusste genau, wo sie war. Und wann diese Szene sich abgespielt hatte.
Wie auch nicht? In ihren »Träumen« war sie schon oft hier gewesen. Es war der Moment, als der Inquisitor sie zurückgeschickt hatte. Zurück in die rote Hölle des Niemandslands.
Jack schrie seinen Text heraus. »Was ist das?« Wieder drangen seine Worte kaum über das Fauchen, Zischen und Pfeifen hinweg, aber sie kannte den Text inzwischen auswendig.
»Das Niemandsland!«
»Warum sieht es dann so anders aus?«
Sie bot ihre ganze Suggestionskraft auf, um das alles zu stoppen, den Traum anzuhalten. So wie sie es schon hundertmal versucht hatte. Aber es funktionierte nicht.
Das wahre Niemandsland erwartete sie, versengte ihr die Augen mit tausend unterschiedlichen Rottönen. Die Hitze würgte sie in der Kehle, der Sand, der vom Wind aufgewirbelt wurde, zerstach ihr die Haut wie tausend spitze Nadeln. Riesige Felstrümmer brachen aus dem Boden hervor, bildeten zackige Gipfel.
Ein Labyrinth aus Schatten dehnte sich aus. Zahllose neue Verstecke, in denen Dämonen lauerten, um sie aus dem Hinterhalt zu überfallen.
Aber das verschaffte ihr zumindest eine kurze Atempause. Susanna wusste inzwischen, wo sie sich versteckten. Wann der Angriff kommen würde. Nur hatte sie leider noch immer keine Möglichkeit gefunden, das alles zu verhindern. Die Erinnerung würde unweigerlich vor ihren Augen ablaufen, so wie immer.
Ein Blick zu Jack und heftige Schuldgefühle brodelten in ihr hoch. Dem Pfad zu folgen, den der Inquisitor ihnen vorgegeben hatte, war ein Ding der Unmöglichkeit. Unter diesen Umständen konnten sie das Niemandsland niemals heil durchqueren.
Es war ein Todesurteil.
»Jack«, sagte sie flehend und drehte sich zu der Seele um, die sie so weit von ihrem Weg abgebracht hatte. Die Worte lagen ihr auf der Zunge, drängten verzweifelt heraus, aber noch nie waren sie ihr so von Herzen gekommen wie diesmal. »Es tut mir leid. Es tut mir so schrecklich leid.«
»Was machen wir jetzt?«, brüllte Jack.
Sie drehte sich zum Schutzhaus um. Als sie es zum ersten Mal im Wirbeln und Kreischen der Dämonen entdeckt hatte, waren ihr die Knie weich geworden vor Dankbarkeit. Der Inquisitor hatte also doch noch einen Rest von Gnade walten lassen, denn dort stand es, keine hundert Meter von der Stelle entfernt, an der sie kauerte und schutzlos dem Angriff der Dämonen preisgegeben war. Die Tür stand bereits offen, als wartete das Haus auf sie.
»Jack!« Mit einem zitternden Finger zeigte sie darauf. »Schau mal!«
Sie wandte den Kopf und lächelte ihm zu, wollte diesen winzigen Hoffnungsschimmer mit ihm teilen – musste jedoch ihre flüchtige Unachtsamkeit teuer bezahlen. Ein Dämon landete auf ihrem Arm, umklammerte ihn mit seinen Krallen wie ein Falke, der auf den Handschuh seines Herrn zurückkehrt. Nur dass Susanna keinen Handschuh trug und statt der schlanken, schönen Gestalt eines Raubvogels ein grässlicher, zuckender Klumpen schwärzester Finsternis an ihrem Arm hing und auf sie einhackte. Gierig zerrte er an ihrem Fleisch und fletschte seine messerscharfen Zähne.
»Hilfe! Mach ihn weg!« Sie warf sich herum, schlug um sich und drehte Jack die rechte Seite zu, damit er die Kreatur leichter packen konnte. Als Jack sich immer noch nicht rührte, zerrte sie selbst an dem Ding. Warum half er ihr nicht? Flehend schaute sie ihn an und da sah sie es. Er konnte sich nicht entscheiden.
Sollte er ihr helfen oder nicht? Sollte er einfach zulassen, dass die Dämonen sie schnappten?
Zugegeben, sie hatte es verdient, nach allem, was sie ihm angetan hatte.
Jacks widerstreitende Gefühle flackerten über sein Gesicht; er war so leicht zu lesen, als hätte er laut gesprochen.