»Moment!« Moses hob die Hand. »Was heißt das: Sie muss ›mächtig Angst haben‹? Vor wem?«
Henning zuckte ungeduldig mit den Schultern. »Zum Beispiel vor den Verwünschungen ihrer Schwiegermutter, vor ihrem Ehemann oder bösen Nachbarn – was weiß ich. Im Alltag gibt es tausend Gründe, weshalb man sich den Beistand der Geisterwelt erhoffen kann.«
»Und woher bekommt man so etwas?«, erkundigte sich Moses. »So ein Gris-Gris, meine ich?«
»Von einem Zauberer natürlich«, erklärte Henning nervös. »Aber deswegen bin ich nicht hier. Darüber können wir später reden. Ich brauche deine Hilfe.«
Moses seufzte. Er hätte gerne mehr erfahren. Andererseits war nicht zu übersehen, dass Henning in Schwierigkeiten steckte. Also hob er sich seine Fragen für später auf.
»Also gut, was hast du auf dem Herzen?«, wollte er wissen. Er deutete auf einen der beiden Stühle. »Aber fass dich bitte kurz!«
Er füllte Wasser in die Kaffeemaschine, schloss den Deckel und drückte den Schalter. Nichts rührte sich. Das Mahlwerk blieb stumm, stattdessen blinkte wieder dieses verfluchte kleine Lämpchen. Irgendetwas schien defekt zu sein, und das nicht zum ersten Mal. Moses ballte die Faust. Was hinderte ihn eigentlich daran, diese angeblich beste Kaffeemaschine der Welt gegen die Wand zu schmeißen?
»Der Kaffee fällt leider aus«, sagte er schlecht gelaunt und setzte sich hinter den Schreibtisch. »Also, schieß los! Was ist so dringend, dass du dich überwindest und mich hier in diesem ›Bullennest‹ besuchst?«
»Das mit den Bullen habe ich nie so gemeint«, beschwerte sich Henning. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Das weißt du genau! Ich …«, er schluckte, »ich habe Mist gebaut. Christa …«
Weiter kam er nicht, denn Moses war sofort alarmiert: »Was ist mit Christa?«, unterbrach er seinen Adoptivbruder. »Ist ihr etwas zugestoßen?«
»Nein, nein!«, beruhigte Henning ihn. »Christa geht es gut. Das heißt, darum geht es nicht. Oder doch.«
Er wich Moses’ Blick aus und spielte verlegen mit seinem Ehering.
»Und worum geht es dann?« Allmählich verlor Moses die Geduld. So verdruckst kannte er Henning gar nicht. Sein gesundes Selbstbewusstsein war schon in Jugendjahren berüchtigt gewesen.
Sein Adoptivbruder holte tief Luft. »Ich habe jemanden kennengelernt«, sagte er schließlich. »Neulich, auf einem Ball der Hamburger Reeder. Ich war allein da. Du weißt ja, dass Christa solche gesellschaftlichen Events nicht ausstehen kann.«
»Ja, und genau das schätze ich an ihr. Aber lass mich raten: Dieser Jemand, den du kennengelernt hast, war jung, vermutlich blond und auf alle Fälle gut gebaut.«
»Brünett«, widersprach Henning kleinlaut. »Sie war brünett. Und so gut gebaut war sie auch nicht.«
»Aha«, stellte Moses trocken fest. »Und was habe ich damit zu tun?«
Henning knetete seine Hände. »Diese, äh, junge Dame hat mir Rosen geschickt. Zu mir nach Hause!«
Er sah Moses empört an, aber der verdrehte nur die Augen. »Ich glaube, ich weiß, was jetzt kommt: Christa hat dich vor die Tür gesetzt!«
»Noch nicht«, berichtigte ihn Henning verzagt. »Aber du kennst sie ja. Zuzutrauen ist es ihr.«
Moses schüttelte ungläubig den Kopf. »Du hast zwei tolle Kinder und eine wunderbare Frau. Warum lässt du dich überhaupt auf so etwas ein? Ich verstehe nicht, wie man so blöd sein kann!«
»Da gibt es nichts zu verstehen«, stöhnte Henning. »Das ist einfach so passiert. Außerdem tu nicht so, als wärst du ein Heiliger. Denk nur an die Abifeier.«
»Das ist lange her«, erwiderte Moses. »Außerdem bin ich nicht verheiratet, und ich habe auch keine zwei süßen Kinder.«
»Ja, ich weiß«, gab Henning zerknirscht zu. »Deshalb musst du mir ja helfen.«
»Und wie?«
»Ganz einfach: Wir sind nach dem Ball noch um die Häuser gezogen. Wir waren die ganze Zeit zusammen. Deshalb kannst du bezeugen, dass nichts passiert ist!«
Moses zog eine Augenbraue hoch. »Nichts passiert? Und wie passen dann die roten Rosen da rein?«
»Wir sagen einfach, dass wir zufällig jemanden in der Bar kennengelernt haben.«
»Du meinst die Brünette?«
»Genau die. Und die hat mich angehimmelt, ohne dass ich etwas dafürkonnte. So wie ein Groupie eben. Dabei haben wir uns nur nett unterhalten.«
Er sah Moses an und lächelte unglücklich.
»Groupie?«, ächzte Moses. »Bist du jetzt ein Rockstar oder so etwas? Stars hängen ihre Privatadresse allerdings meines Wissens nicht an die große Glocke.«
»Ich war eben so blöd, ihr meine private Visitenkarte zu geben«, sagte Henning hoffnungsvoll. »Was übrigens wahr ist!«
Moses musterte ihn. Schließlich winkte er ab. »Das wird nicht funktionieren. Christa kauft uns das niemals ab. Abgesehen davon waren wir an diesem Abend einfach nicht zusammen.«
»Aber du könntest so tun.«
»Du meinst, ich soll lügen?«
»Nur ein bisschen«, druckste Henning herum. »Tu es den Kindern zuliebe.«
Moses legte die Stirn in Falten: »Und natürlich wegen dir …«
»Wegen den Kindern, Christa und mir!« Henning sah ihn händeringend an.
»Das ist unfair«, beschwerte sich Moses.
Er warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr. Helwig fragte sich sicher schon, wo er blieb. Er seufzte.
»Wenn du willst, kann ich ja mal mit Christa reden«, schlug er vor. »Aber ich werde ihr kein Lügenmärchen auftischen. Das kannst du nicht von mir verlangen.«
Henning schien nicht wirklich glücklich mit dieser Lösung zu sein. Letztendlich blieb ihm jedoch nichts anderes übrig, als die Entscheidung zu akzeptieren.
»Also gut«, sagte er. »Ich habe zwar ein bisschen mehr Solidarität von dir erwartet, aber vielleicht schaffst du es ja, Christa irgendwie zur Vernunft zu bringen.«
In diesem Moment klopfte es, und Helwig steckte den Kopf zur Tür herein. Moses war heilfroh, erlöst zu werden, denn insgeheim verspürte er das Bedürfnis, Henning rechts und links zu ohrfeigen. Dafür, dass er so dämlich war, genau das aufs Spiel zu setzen, um das er ihn schon immer beneidet hatte.
»Ich warte schon eine Ewigkeit«, beschwerte sich Helwig, während sie Moses’ Besuch interessiert musterte. »Ich dachte, wir wollen zu dieser Hilfsorganisation!«
»Ich komme gleich«, erwiderte Moses. Dann wandte er sich an seinen Adoptivbruder: »Ich muss jetzt leider weg. Ich rufe dich an, okay?«
Henning stand auf und fegte ein unsichtbares Staubkorn von seinem Zweireiher. Helwigs plötzliches Auftauchen schien ihm peinlich zu sein.
»Also dann will ich nicht weiter stören«, sagte er betont lässig. Er nickte Moses zu. »Ich wünsche dir viel Glück bei deinem neuen Fall. Wir sehen uns!«
»Das wünsche ich mir auch«, brummte Moses, ohne sich von dem Schreibtisch zu erheben. »Bis später.«
»Äh, ja, tschüss«, sagte Henning. Er lächelte Helwig verlegen an, die noch immer mit der Klinke in der Hand in der Tür dastand und ihn mit strenger Miene beäugte. Mit einem schiefen Grinsen drückte er sich an ihr vorbei und suchte das Weite.
»Wer war das denn?«, wollte Helwig wissen. »Meinte dieser Schnösel etwa unseren Fall?«
»Das war mein Adoptivbruder«, erklärte Moses ausweichend.
»Oh!«