Moses und der kalte Engel. Ortwin Ramadan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ortwin Ramadan
Издательство: Bookwire
Серия: Moses
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783037921678
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war genervt. Konnte sie es denn gar nicht erwarten, von ihm fortzukommen? Er deutete auf die große Aluminiumkiste.

      »Ich weiß nicht, ob ich dieses Ungetüm überhaupt in den Wagen kriege«, murrte er verdrossen.

      Juliane verdrehte die Augen. »Das wird schon gehen. Du bist immer so schrecklich pessimistisch!«

      »Vielleicht liegt das an meinen Beruf«, brummte Moses.

      Er ging in die Knie und packte die Kiste mit beiden Händen. Sie war verflucht schwer.

      »Soll ich dir helfen?«, fragte Juliane.

      »Nein, nein, das schaffe ich schon«, presste Moses zwischen den Zähnen hervor.

      »Aber pass auf deinen Rücken auf«, ermahnte ihn Juliane augenzwinkernd.

      Wie er diese Kommentare hasste! Während Juliane mit ihrem riesigen Rucksack voranlief, schaffte Moses es irgendwie, die unhandliche Kiste durch das Treppenhaus auf die Straße und anschließend in den Wagen zu bugsieren. Schwer atmend wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Er kam sich wie ein Möbelpacker vor. Abgesehen davon verstieß er gerade gegen die Dienstvorschrift. Es war strikt untersagt, den Dienstwagen für private Zwecke zu benutzen. Und das galt erst recht während der Dienstzeit. Für jemanden wie ihn, der unter Kollegen als Prinzipienreiter verschrien war – ein Ruf, auf den er durchaus stolz war –, kam das Verstoßen gegen die Dienstvorschrift einer harten Prüfung gleich. Schlecht gelaunt setzte sich Moses hinter das Steuer. Da sich auf der A7 ein schwerer Unfall ereignet hatte und sich der Verkehr Richtung Norden kilometerweit staute, wie er im Radio gehört hatte, blieb ihnen nur der Weg quer durch die Stadt. Nicht zum ersten Mal ärgerte er sich darüber, dass die Eulenstraße eine Einbahnstraße war. Um zum Platz der Republik und dann auf die Max-Brauer-Allee zu gelangen, musste er erst einmal um den gesamten Block kurven. Nachdem er das geschafft hatte, ließ er den Altonaer Bahnhof links liegen und fuhr am Amtsgericht vorbei weiter zur Ringauffahrt. Immerhin war der Verkehr halbwegs erträglich, wie er zu seiner Erleichterung feststellte. Juliane saß währenddessen neben ihm und schwieg versonnen vor sich hin. Seit sie in den Wagen eingestiegen war, hatte sie keinen Laut von sich gegeben. Schließlich wurde es ihm zu bunt.

      »Woran denkst du?«, wollte er wissen.

      »Ach, an tausend Dinge!«

      »Auch an uns?«

      Juliane sah ihn an und wirkte überrascht.

      »Natürlich denke ich auch an uns«, sagte sie und legte ihre Hand auf sein Bein. »Ich weiß jetzt schon, dass ich dich schrecklich vermissen werde. Sechs Monate sind eine lange Zeit!«

      Dann sah sie wieder auf die Straße. Moses spürte die Wärme ihrer Hand, die noch immer auf seinem Schenkel lag. Was würde er ohne ihre Nähe machen? Nachts, wenn er von seinen Albträumen gequält und von seiner Vergangenheit eingeholt wurde? Der Gedanke, allein zu sein, jagte ihm Angst ein. Seit er vor einigen Wochen auf einer Afrika-Ausstellung das Foto des alten Mannes gesehen hatte, der die gleichen Narbenzeichen am Oberarm trug wie er selbst, waren seine Träume nur noch intensiver geworden. Dabei konnte er sich nicht einmal mehr daran erinnern, was in seinen ersten Lebensjahren wirklich geschehen war. Jegliche Erinnerung war wie ausgelöscht. Da waren nur diese Träume, die ihn, seit er denken konnte, verfolgten. Juliane war schon immer der Meinung gewesen, er müsse sich seinem Trauma stellen und endlich Licht in das Dunkel seiner Vergangenheit bringen. Sie hatte sogar den Fotografen des besagten Pressefotos in einem Bergedorfer Altersheim ausgemacht. Hinter seinem Rücken. Natürlich war er stinksauer auf Juliane gewesen, aber am Ende hatte er ihr versprochen, Kontakt mit dem alten Mann aufzunehmen.

      Jetzt hoffte er, dass sie ihn vor ihrer Abreise nicht an sein Versprechen erinnern würde. Aber danach sah es nicht aus. Sie befand sich offenbar bereits Abertausende von Kilometern weit weg von ihm, denn sie saß mit einem verträumten Lächeln auf den Lippen neben ihm und sah aus dem Fenster. Vermutlich streifte sie bereits auf der Suche nach einer wissenschaftlichen Sensation mit »ihrem Sören« durch den Urwald. Moses rieb sich die Augen und versuchte sich wieder auf den Verkehr zu konzentrieren. Sie kamen noch immer zügig voran. Sogar die Ampel am Holstenhaus, das seinen Namen der benachbarten Brauerei verdankte, hatten sie ohne großen Zeitverlust hinter sich gebracht.

      Plötzlich drehte sich Juliane zu ihm.

      »Ich muss dir etwas gestehen«, sagte sie, während sie ihre Hand von seinem Oberschenkel nahm. Moses umklammerte das Lenkrad fester. Seine Alarmglocken schrillten.

      »Ich bin aufgeregt wie ein kleines Mädchen«, lachte Juliane ihn an. »Es ist schlimmer als bei der Abiturprüfung oder bei meinem ersten Date!«

      Na bitte, da haben wir es! Moses setzte den Blinker und überholte den Toyota, dessen Bummelei ihm mittlerweile gewaltig auf die Nerven ging. Es war ein riskantes Manöver, das mit wütendem Hupen der entgegenkommenden Autos quittiert wurde. Dann scherte er wieder ein.

      »Was sollte das denn?«, erkundigte sich Juliane vorwurfsvoll. »So eilig haben wir es nicht.«

      Moses starrte geradeaus.

      »Komm schon«, sagte Juliane. »Du bist schon die ganze Zeit so angespannt. Also raus mit der Sprache: Was ist los?«

      »Nichts.«

      »Freust du dich denn nicht für mich? Diese Expedition ist die Chance meines Lebens.«

      »Deines beruflichen Lebens!«, verbesserte Moses sie.

      Juliane sah ihn erstaunt an. Schließlich nickte sie.

      »Ja«, sagte sie. »Es könnte der Beginn einer echten Forscherlaufbahn sein. Wo ist das Problem?«

      Bevor Moses etwas erwidern konnte, vibrierte sein Handy. Er warf während der Fahrt einen Blick auf das Display. Es war Helwigs Nummer. Dass sie ihn anrief, obwohl sie von seinem privaten Ausflug wusste, beunruhigte ihn. Etwas Gravierendes musste vorgefallen sein. Er zögerte kurz, dann drückte er den Anruf weg und schaltete das Handy in den Off-Modus.

      »Wolltest du nicht drangehen?«, fragte Juliane, während Moses das Handy wieder einsteckte.

      »Nein. Jetzt nicht.«

      »Wer war es denn?«

      »Nur eine Kollegin«, brummte Moses und kam an der Ampel zum Stehen.

      »Etwa diese kleine Blonde mit den Haaren auf den Zähnen?« Juliane hatte Helwig letzten Sommer auf einer Beerdigung kennengelernt. Sie hatte Moses unbedingt begleiten wollen, weil ihr das Schicksal des Mädchens, das man in einem Koffer aus der Elbe geborgen hatte, ebenso wie ihm zu Herzen gegangen war. Offenbar hatte sie das Zusammentreffen mit Helwig bis heute nicht vergessen.

      »Wie ich dir erzählt habe, haben wir einen neuen Fall«, wich Moses aus.

      »Und?«

      »Was ›und‹?«

      »Wie schlimm ist es?«

      »Schlimm genug.«

      Julianes Gesicht verfinsterte sich. »Sind schon wieder Kinder oder junge Mädchen betroffen?«

      »Nein. Aber es ist trotzdem eine ziemlich hässliche Sache. Ungewöhnlich brutal, wenn du mich fragst.«

      »Das tue ich lieber nicht«, winkte Juliane hastig ab. »Mehr will ich gar nicht wissen.«

      Sie blickte wieder aus dem Fenster, und Moses ließ es dabei bewenden. Stattdessen versuchte er dem Drang zu widerstehen, Helwig zurückzurufen, um zu erfahren, was passiert war. Er rang mit seinem schlechten Gewissen. Da draußen lief ein Mörder herum, der seine Opfer offenbar stundenlang quälte, bevor er sie hinrichtete. Und was tat er? Er chauffierte seine Freundin zum Flughafen! Moses warf erneut einen verstohlenen Blick auf seine Armbanduhr. Dafür, dass Hamburg erst kürzlich zur »Stauhauptstadt Deutschlands« gekürt worden war, kamen sie noch immer überraschend zügig vorwärts. Wenigstens etwas, redete er sich ein. Je schneller er das Ganze hinter sich brachte, desto besser.

      Juliane riss ihn aus seinen Gedanken. »Warum bist du so angespannt?«

      »Ach,