Moses und der kalte Engel. Ortwin Ramadan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ortwin Ramadan
Издательство: Bookwire
Серия: Moses
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783037921678
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stiegen sie aus dem Wagen und traten an das von verwitterten Steinstelen eingefasste Tor. Rechter Hand war eine Kamera angebracht, darunter befanden sich mehrere dezente Klingelschilder. An ihnen war abzulesen, dass neben ProAid auch ein Notar und eine Kapitalgesellschaft in der Villa residierten. Er drückte den Klingelkopf des Hilfsvereins.

      »Ja bitte?«

      Die Stimme aus dem Lautsprecher antwortete beinahe sofort. Sie klang freundlich, aber geschäftsmäßig distanziert.

      »Hauptkommissar Moses, und das ist meine Kollegin Oberkommissarin Helwig«, sagte Moses, der davon ausging, dass sie durch die Kamera beobachtet wurden. »Wir haben angerufen.«

      »Ach ja, richtig! Kommen Sie rein.« Die Stimme wechselte in einen freundlichen Ton. »Wir sitzen ganz oben. Unter dem Dach.«

      Ein Klicken ertönte, und das schwere Eisentor öffnete sich. Moses und Helwig gingen über den von Blumenbeeten gesäumten Weg auf die weiße Villa zu. In dem Moment, in dem sie die Eingangsstufen erklommen hatten, wurde erneut ein elektrischer Türöffner betätigt, und die verglaste Eingangstür sprang vor ihrer Nase auf. Sie betraten die Villa und stiegen über die mit rotem Teppich ausgelegte Treppe hinauf. Oben am Treppenabsatz wurden sie bereits von Sylvia Solbek erwartet. Die Leiterin des Hilfsvereins entsprach so gar nicht dem Klischee einer sozial engagierten Aktivistin. Sie trug weder bequeme Schuhe noch selbst gestrickte Pullover, sondern hochhackige Pumps und ein stahlgraues, eng geschnittenes Businesskostüm. Sylvia Solbek war ohne Zweifel eine bemerkenswert attraktive Endvierzigerin. Moses hätte es nicht gewundert, wenn er ein ehemaliges Mannequin vor sich gehabt hätte, das sich mit viel Aufwand in Form hielt. Dazu passte auch der aufgeräumt wirkende Haarknoten, zu dem sie ihre kastanienbraunen Haare zusammengesteckt hatte und der ihr eine gewisse Strenge verlieh. Ein Eindruck, der sich durch das angenehm warme Timbre ihrer tiefen Stimme allerdings sofort wieder verflüchtigte.

      »Schön, dass Sie hergefunden haben«, empfing sie die Kommissare. »Kommen Sie doch bitte herein.«

      Solbek führte die Kriminalbeamten in ihr Büro, das aus einem einzigen großen Raum mit Dachschräge bestand. Darin befand sich ein Computerarbeitsplatz, an dem eine Vase mit frischen Blumen stand, eine Reihe moderner Aktenschränke, über denen eine Auszeichnung der Stadt Hamburg hing, und eine gemütliche, aber in die Jahre gekommene Sitzgruppe.

      »Ich weiß, was Sie jetzt denken!«, lachte Solbek, als sie die Gesichter der Kommissare sah. »Nur weil wir unser Büro in dieser protzigen Villa haben, heißt das noch lange nicht, dass wir in Geld schwimmen. Der Eigentümer der Villa ist so großzügig, uns das Büro mietfrei zur Verfügung zu stellen.«

      Sie machte eine einladende Geste in Richtung der Sitzgruppe unter der Dachschräge. »Wollen wir uns nicht lieber setzen?«

      Moses und Helwig folgten der Aufforderung und nahmen Platz.

      »Also, womit kann ich Ihnen weiterhelfen?«, fragte Solbek, nachdem sie sich ebenfalls gesetzt hatte. Ihr Blick sprang zwischen den Kommissaren hin und her.

      Moses räusperte sich. Er musste zugeben, dass ihn diese Frau beeindruckte. Und damit meinte er nicht nur ihr gutes Aussehen. Sylvia Solbek verfügte ohne Frage über eine gehörige Portion Ausstrahlung.

      »Wir sind hier, weil wir Ihnen ein paar Fragen stellen müssen«, erklärte er. »Zu einem Ihrer Mitarbeiter. Sein Name ist Jan Mattis.«

      »Jan?« Solbek horchte sofort auf. »Was ist mit ihm?«

      »Sie kennen ihn gut?«, erkundigte sich Helwig.

      »Natürlich! Jan engagiert sich seit über einem Jahr bei uns. Er ist sozusagen unser Mädchen für alles.«

      »Wussten Sie, dass er schon einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist?«, wollte Moses wissen.

      »Natürlich!«, lachte Solbek auf. Sie schlug ihre Beine übereinander. »Aber das spielt für uns keine Rolle. Unsere Organisation ist dazu da, Menschen zu helfen. Nicht, um sie auszugrenzen. Weshalb fragen Sie?«

      Moses überging die Frage und bemühte sich, die wohlgeformten Beine seiner Gesprächspartnerin zu ignorieren. »Worin besteht eigentlich Ihre Hilfe? Ich meine, was genau tut dieser Verein hier?«

      Er fuhr mit der Hand durch die Luft.

      Solbek wurde ernst. »Wir vermitteln medizinische Hilfe an Geflüchtete«, erklärte sie. »An Menschen mit eingeschränktem Aufenthaltsstatus, um genau zu sein. Anders als bei anerkannten Asylbewerbern übernimmt der Staat in ihren Fällen nur die medizinische Notversorgung, aber keine Therapien oder andere dringend benötigte Operationen. Diese Lücke wollen wir schließen. Schließlich leben diese Menschen mitten unter uns. Auch wenn sie offiziell nicht willkommen sind.«

      Sie sah die Kommissare herausfordernd an, woraufhin Moses abwehrend die Hände hob.

      »Für die Gesetze sind meine Kollegen und ich nicht zuständig«, sagte er.

      Solbek legte die Stirn in Falten. »Von welcher Polizeibehörde sind Sie noch mal? Mir wurde am Telefon lediglich Ihr Besuch angekündigt.«

      »Wir sind von der Mordkommission«, sagte Helwig, wobei Moses den Eindruck hatte, dass sie dies mit unnötigem Nachdruck tat.

      Sylvia Solbek riss die Augen auf: »Mordkommission? Mein Gott, ist Jan etwas zugestoßen?«

      »Er ist tot«, erklärte Moses.

      »Ihr Mitarbeiter wurde grausam ermordet«, fügte Helwig hinzu.

      Moses warf ihr einen warnenden Blick zu, damit sie sich etwas zurückhielt. Die Leiterin der Hilfsorganisation reagierte indessen sichtlich schockiert auf die Nachricht.

      »Das kann nicht sein!«, stammelte Solbek fassungslos. »Tot? Wie …«

      Sie verstummte und schien nach den richtigen Worten zu suchen.

      »Wann haben Sie Ihren Mitarbeiter denn das letzte Mal gesehen?«, erkundigte sich Moses in einem beruhigenden Ton.

      »Vor drei – nein, warten Sie – das war vor vier Tagen.« Solbek rang noch immer um Fassung. »Jan hat sich abgemeldet und ein paar Tage freigenommen. Wie schrecklich!«

      »Wissen Sie, was er vorhatte? Warum er sich freigenommen hat?«

      Sylvia Solbek schüttelte den Kopf.

      »Dann hat es Sie also nicht interessiert?«, hakte Helwig nach.

      Die Geschäftsführerin des Vereins sah sie hilflos an: »Wir arbeiten alle ehrenamtlich hier. Bei uns kann jeder tun und lassen, was er will. Ich weiß es wirklich nicht!«

      Helwig ließ dennoch nicht locker. »Das heißt, niemand wird in diesem Laden hier bezahlt? Sie auch nicht?«

      »Nein.«

      »Wovon leben Sie dann? Ich meine privat?«

      »Mein verstorbener Mann und ich hatten das Glück, genug in unseren früheren Berufen zu verdienen«, erwiderte Sylvia Solbek mit einer plötzlichen Schärfe in der Stimme.

      »Aber warum gründet man dann eine Hilfsorganisation?« Helwig ließ nicht locker.

      »Ganz einfach: Weil man etwas zurückgeben will! ProAid war der Herzenswunsch meines Mannes.«

      Moses fühlte sich genötigt dazwischenzugehen.

      »Welche Aufgaben hat Jan Mattis denn in Ihrem Verein übernommen?«, fragte er. »Ich meine, was genau hat er hier gemacht?«

      Solbek knetete ihre manikürten Finger. Erst jetzt fiel Moses auf, dass sie keinen Ehering mehr trug.

      »Jans Aufgabe war es, die Menschen während der Behandlung im Krankenhaus zu betreuen«, erklärte Solbek. »Auch als Ansprechpartner für die Ärzte. Das machen wir immer so. Die wenigsten Flüchtlinge haben schließlich Angehörige in Deutschland, und viele können nicht einmal Englisch.«

      »Demnach arbeiten also noch mehr vorbestrafte junge Männer als Betreuer für Sie?«, folgerte Helwig.

      Die Leiterin spitzte die