»Keine guten Nachrichten?«, fragte Schwester Ingeborg fröhlich.
»Wie kommen Sie darauf?« Moses überraschte die Frage. Er steckte das Handy wieder ein.
»Sie sehen enttäuscht aus.« Die Schwester warf ihm ein listiges Zwinkern zu. »Wenn man so lange mit Menschen arbeitet wie ich, erkennt man so etwas.«
»Waren Sie eigentlich lange in Afrika?«, erkundigte sich Helwig. Der Respekt, den sie der kleinen, drahtigen Frau gegenüber zeigte, verblüffte Moses aufs Neue. Immerhin schien die freundliche Nonne wie ein Gegenentwurf zu seiner ungestümen Kollegin, die durch die Welt lief, als gelte es, einen Krieg zu gewinnen.
»Ob ich lange in Afrika gelebt habe?«, fragte die Ordensschwester mit einem heiteren Lachen. »Afrika ist meine zweite Heimat, mein Kind! Immerhin war ich dort mehr als drei Jahrzehnte als Lehrerin und in der Missionsarbeit tätig. Und ich vermisse es sehr.« Sie beugte sich vor und raunte den Kommissaren verschwörerisch zu: »Ehrlich gesagt verabscheue ich dieses Hamburger Schietwetter. Besonders jetzt, im Winter!«
Helwig grinste von einem Ohr zum anderen. In diesem Moment ging die Tür auf und ein griesgrämiger Justizbeamter warf einen prüfenden Blick in den karg möblierten Raum. Dann führte er die Freundin des Ermordeten in Handschellen herein.
»Ich glaube, das ist nicht nötig«, sagte Moses mit Blick auf die Handschellen.
»Sie sind der Chef.« Der Beamte nahm seiner Gefangenen die Handschellen ab, wobei er betont langsam zu Werke ging. Danach schlurfte er wortlos aus dem Raum. Als die schwere Tür ins Schloss fiel, hob die junge schwarze Frau ruckartig den Kopf. Sie sah sich hastig um, dann sah sie wieder auf ihre Hände, die sie in ihrem Schoß verschränkt hatte.
»Ich nehme an, das ist die junge Frau, von der Sie mir erzählt haben«, sagte Schwester Ingeborg, während sie die Frau anlächelte.
»Bitte reden Sie mit ihr«, bat Moses die Nonne. »Erkundigen Sie sich bitte nach ihrem Namen und ihrem Ausweis.«
Schwester Ingeborg wandte sich an die sichtlich eingeschüchterte junge Frau und sprach sie in verschiedenen Sprachen an. Als diese keinerlei Reaktion zeigte, zuckte sie mit den Schultern. »Also Swahili oder Aramäisch versteht sie offensichtlich nicht. Auch kein Arabisch.« Sie sah Moses an, und die vielen Falten auf ihrer Stirn vertieften sich. »Ich weiß nicht recht, in Afrika gibt es an die zweitausend Sprachen. Können Sie mir denn nicht wenigstens sagen, woher sie stammt?«
»Leider nein«, sagte Moses. »Versuchen Sie es trotzdem weiter.«
Moses fuhr sich über den Nacken. Er fühlte sich müde. Wie den ganzen Tag schon.
Schwester Ingeborg seufzte und unternahm einen erneuten Anlauf. Diesmal erhielt sie tatsächlich eine flüchtige Reaktion. Die junge Frau hob kurz den Kopf, stierte sie mit großen Augen an, nur um dann wieder auf ihre ineinander verschlungenen Hände zu sehen. Über das zerknitterte Gesicht der Ordensschwester huschte indessen ein strahlendes Lächeln.
»So wie es aussieht, versteht das arme Kind Igbo«, erklärte sie erfreut. »Das wird vornehmlich im Süden Nigerias gesprochen.«
»Dann kommt sie also aus Nigeria?«, erkundigte sich Moses. Gleichzeitig ärgerte er sich darüber, dass das Ausländeramt für den Abgleich der Fingerabdrücke und eine Identifizierung derart viel Zeit benötigte.
»Das ist anzunehmen«, sagte Schwester Ingeborg, während sie die verängstigte junge Frau mit einem warmherzigen Blick bedachte. »Meine Mitschwestern und ich betreuen in unserer Einrichtung einige Flüchtlinge aus Westafrika. Allerdings sind das ausschließlich junge Mütter mit Kindern.«
Moses fiel es nicht leicht, seine Ungeduld zu zügeln. »Bitte fragen Sie sie nach ihrem Namen und ob sie irgendwelche Dokumente besitzt.«
»Und warum sie mich angegriffen hat und fliehen wollte!«, fügte Helwig hinzu. Die Schwellung in ihrem Gesicht war zwar etwas zurückgegangen, dafür leuchtete ihre linke Wange jetzt in verschiedenen Blautönen.
»Ich verstehe leider nicht viel von dieser Sprache«, sagte Schwester Ingeborg. »Aber ich werde es versuchen.«
Sie strich über ihr weißes Habit und wandte sich wieder an die Zeugin. Zuerst schien die junge Frau nicht auf ihre Bemühungen eingehen zu wollen, aber dann entwickelte sich zwischen ihr und der Ordensschwester ein stockendes Gespräch. Die Antworten auf die Fragen kamen am Anfang nur zögernd, aber nach und nach schien die Erleichterung darüber, endlich mit jemandem sprechen zu können, gegen ihre Furcht und ihr offenkundiges Misstrauen zu gewinnen. Helwig und Moses verstanden allerdings nicht das Geringste von dem, was zwischen den beiden gesprochen wurde. Dennoch verfolgten sie angespannt jedes Wort. Bis Helwig es nicht länger aushielt.
»Was sagt sie denn?«, fragte Helwig. »Können Sie das nicht zwischendurch übersetzen?«
Schwester Ingeborg wechselte noch kurz ein paar Worte mit der jungen Frau, die daraufhin schüchtern nickte. Dann wandte sie sich an die Kommissare und fasste das Gespräch mit ernster Miene zusammen: »Sie hat gesagt, dass sie Adanna heißt und aus dem Süden Nigerias stammt. Und dass sie seit einem Jahr in Deutschland ist. So wie ich das verstanden habe, wurde ihr Asylantrag aber abgelehnt.«
»Demnach ist die junge Dame also ausreisepflichtig«, stellte Moses fest. »Das könnte erklären, warum sie auf meine Kollegin losgegangen ist und fliehen wollte.«
»Nicht unbedingt«, korrigierte ihn Schwester Ingeborg. »Wenn ihr in ihrem Heimatland Gefahr droht oder sie in der Ausbildung ist, könnte sie auch ›geduldet‹ sein. Ein unschönes Wort, wie ich finde.«
»Nun gut«, sagte Moses. »Dann fragen Sie sie bitte, woher sie Jan Mattis kennt. Und in welcher Beziehung sie zu ihm stand. Ich will wissen, weshalb sie sich in seiner Wohnung aufgehalten hat.«
Schwester Ingeborg drehte sich wieder der Zeugin zu. Die Antworten der jungen Nigerianerin kamen erneut zögernd, plötzlich wurde sie jedoch laut. Mit angstgeweiteten Augen brachen die Worte aus ihr heraus. Am Ende konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Schwester Ingeborg erhob sich und umrundete den Tisch, um sie in den Arm zu nehmen.
Die Kommissare wechselten konsternierte Blicke. Der heftige Gefühlsausbruch kam für sie völlig überraschend.
»Was hat sie gesagt?«, fragte Moses, nachdem sich die Zeugin wieder ein wenig beruhigt hatte.
»Leider verstehe ich nicht alles«, seufzte Schwester Ingeborg. Sie hatte sich neben die junge Afrikanerin gesetzt und tätschelte ihre Hand. »Soweit ich das mitbekommen habe, hat sie diesen jungen Mann, von dem hier die Rede ist, bei einer Hilfsorganisation kennengelernt.«
»Lassen Sie mich raten: Die Hilfsorganisation heißt ProAid«, unterbrach Moses die Ordensschwester.
Eine kurze Nachfrage bestätigte seine Vermutung.
»Mich würde interessieren, wie dieser Mattis sein Geld verdient hat«, meldete