»Nein. Das heißt auch.«
»Und was ist das ›auch‹?«, hakte Juliane nach. Als Moses nicht antwortete, seufzte sie. »Hör mal, ich habe keine Lust, dass ich die nächsten sechs Monate dein langes Gesicht vor mir sehe. Also wenn es was zu sagen gibt, dann sage es jetzt!«
»Ich …« Moses stockte. Warum fiel es ihm nur so schwer zuzugeben, dass er Angst hatte? Angst davor, sie zu verlieren und wieder allein zu sein? Sie würden lange voneinander getrennt sein, abgesehen davon war diese Expedition trotz ihrer gegenteiligen Beteuerungen seiner Meinung nach gefährlich. Da konnte sie ihm erzählen, was sie wollte. Niemand spazierte ohne Risiko in einen unerforschten Regenwald. Aber Juliane war von Anfang an wie besessen gewesen. Er hatte gar nicht erst versucht, ihr diese verfluchte Reise auszureden. Als sie vor einer roten Ampel warteten, warf er Juliane einen Blick von der Seite zu. Am liebsten hätte er sie jetzt in den Arm genommen, sie geküsst, aber stattdessen sagte er nur: »Es ist nichts. Also lass uns nicht streiten und die letzten Minuten verderben. In Ordnung?«
»Wie du willst«, erwiderte Juliane und wandte sich ab. Sie wirkte verärgert.
Moses starrte indessen auf die rußverdreckte Rückseite des Lieferwagens vor ihm. Der Aufschrift nach gehörte er einer Lokstedter Reinigungsfirma.
Als die Ampel endlich auf Grün sprang und sich der Verkehr wieder in Bewegung setzte, atmete Moses insgeheim auf. Unter normalen Umständen konnten Juliane und er gut zusammen schweigen. Das war eine Eigenschaft an ihr und an ihrer Beziehung, die er sehr zu schätzen gelernt hatte. Aber im Moment ertrug er das Schweigen nicht. Es schnürte ihm die Luft ab.
»Vorsicht!«, schrie Juliane plötzlich neben ihm.
Moses stieg auf die Bremse und legte mit quietschenden Reifen eine Vollbremsung hin. Er kam nur wenige Zentimeter hinter seinem Vordermann zum Stehen. Ein Stau. Moses fluchte.
»Was jetzt?«, fragte Juliane.
Plötzlich tat Moses etwas, das ihn selbst am meisten überraschte. Er öffnete das Seitenfenster und setzte das Blaulicht auf das Dach seines Dienstwagens, dann scherte er aus der Schlange aus und rumpelte über den Grünstreifen. Danach fuhr er mit eingeschaltetem Martinshorn auf dem breiten Fuß- und Fahrradweg am Stau vorbei. Weiter vorne, an der Einmündung zur Zeppelinstraße, konnten er sehen, was die Ursache für das Verkehrschaos war. Ein mit Leergut beladener Getränkelaster war mitten auf der Kreuzung umgekippt, und nun ergoss sich ein Meer aus Scherben über den Asphalt. Moses umkurvte das Desaster, indem er sämtliche Verkehrsregeln missachtete und in einem waghalsigen Manöver kurz auf die Gegenspur auswich. Als sie den Unfall und den Stau hinter sich gelassen hatten, schaltete er das Martinshorn wieder aus und nahm das Blaulicht vom Autodach. Anschließend fuhr er seelenruhig weiter Richtung Flughafen. Juliane saß mit offenem Mund neben ihm. Sie hatte sich während der halsbrecherischen Aktion am Haltegriff der Tür festgeklammert und keinen Ton gesagt. Jetzt schluckte sie vernehmlich.
»Das sieht dir gar nicht ähnlich«, meinte sie, ohne ihn anzusehen.
»Ach ja?«, erwiderte Moses gereizt. »Was denn?«
»Na, solche James-Bond-Aktionen wie eben. So kenne ich dich gar nicht. Das macht mir Angst.«
Moses fühlte sich verletzt. Für was hielt Juliane ihn eigentlich? Schließlich tat er das nur, damit sie rechtzeitig zu ihrem Flieger kam.
»Von welchem Terminal fliegt du?«, fragte er, als die Parkhäuser und Hotels des Flughafens in Sicht kamen. »Eins oder zwei?«
»Terminal eins«, sagte Juliane. »Aber du brauchst gar nicht erst parken. Lass mich einfach aussteigen. Deine junge Kollegin vermisst dich sicher schon.«
Sie warf ihm einen Blick zu, von dem er nicht wusste, ob sie scherzte oder es ernst gemeint hatte.
»Niemand vermisst mich«, brummte er.
Er setzte den Blinker und nahm die Ausfahrt, danach folgte er den weißen Airport-Schildern. Kurz darauf hielt er unter dem ausladenden Dach des Terminals. Nachdem er Juliane geholfen hatte, die schwere Kiste und ihren mannshohen Rucksack auf einen Gepäcktrolley zu verladen, trat er nervös von einem Fuß auf den anderen. Das war also der Moment, vor dem er sich so lange gefürchtet hatte. Und er fühlte sich genauso an, wie er ihn sich ausgemalt hatte. Juliane schien indessen nur an ihre bevorstehende Reise zu denken.
»Also dann …«, sagte sie fröhlich. Sie wirkte geradezu beschwingt.
»Soll ich nicht doch den Wagen parken und mitkommen?«
»Nein, lass mal!«, winkte Juliane ab. »Ich checke direkt ein, dann hol ich mir etwas zu essen. Das schaffe ich schon allein.«
»Darum geht es nicht«, erwiderte Moses gestresst.
»Und worum geht es dann?«
Juliane sah interessiert zu ihm hoch. Sie stand so dicht vor ihm, dass er die Wärme ihres Körpers zu spüren glaubte. Als er ihr eine Antwort schuldig blieb, seufzte sie. »Willst du mir nicht endlich verraten, was mit dir los ist? Erst dieser Stunt im Auto und jetzt dieses Rumgedruckse. Warum bist du so wütend?«
Auf ihrer Stirn bildeten sich diese kleinen Falten, die Moses so sehr mochte.
»Quatsch!«, sagte er, während er weiter von einem Fuß auf den anderen trat. »Ich bin nicht wütend.«
Dabei war er genau das. Wütend. Auf Juliane, weil sie einfach ans andere Ende der Welt verschwand und ihn allein zurückließ. Und auf sich selbst und seine Unfähigkeit, seine Gefühle und Verlustängste ihr gegenüber zu artikulieren. Er wollte ihr sagen, dass er an ihrer Seite das Gefühl hatte, nach einer lebenslangen Odyssee endlich irgendwo angekommen zu sein, aber er schaffte es nicht.
»Okay, wenn du nicht reden willst, dann lassen wir es«, sagte Juliane.
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, legte ihre Arme um seinen Nacken und küsste ihn. Als Moses ihre Lippen schmeckte, erwachte sofort ein unstillbares Verlangen in ihm. Er drückte sie an sich. So fest, als wollte er sie nie wieder loslassen.
»Vorsicht, du tust mir weh!«, beschwerte sich Juliane.
Moses ließ sie erschrocken los. Juliane zog ihr khakifarbenes Fieldjacket glatt.
»Ich melde mich, sobald ich kann«, sagte sie leicht verunsichert. »Also vergiss mich bis dahin nicht!«
Sie gab ihn einen Kuss, dann löste sie die Bremse des Gepäcktrolleys und schob ihn durch die Glastür. Moses beobachtete, wie sie eine wartende Reisegruppe umkurvte und zielstrebig auf ihren Abflugschalter zusteuerte. Am liebsten hätte er ihr lauthals hinterhergerufen, sie solle wenigstens auf sich aufpassen, aber sie war aus seinem Blickfeld verschwunden. Also setzte er sich schweren Herzens wieder in den Wagen. Als er sein Handy herausnahm und wieder einschaltete, konnte er sehen, dass das Präsidium mehrmals versucht hatte ihn anzurufen. Schließlich hatte Elvers ihm eine SMS geschickt. Moses tippte auf die Textnachricht, und als er sie las, war seine persönliche Misere mit einem Schlag vergessen. Er warf das Handy auf den Beifahrersitz. Dann startete er den Motor und machte sich sofort auf den Weg ins Präsidium.
6.
Moses stürmte auf den Flur des Fachkommissariats 41, Tötungsdelikte und Todesermittlungen. Als er Oberkommissarin Elvers mit einem Stapel Akten aus ihrem Büro kommen sah, rief er ihr zu. Sie blieb stehen und wartete auf ihn.
»Wo?«, fragte Moses ohne Umschweife.
»Im Besprechungsraum.«
»Allein?«
»Nein, mit Helwig. Ihr geht es wieder besser.«
Moses stutzte. »Wieso ›besser‹?«
»Es ist nur eine leichte Gehirnerschütterung. Wenn Sie mich fragen, hat sie wirklich Glück gehabt. In der Tasche waren auch Konservendosen.« Sie sah Moses prüfend an. »Wo waren Sie überhaupt? Ich habe mehrmals versucht Sie zu erreichen.«
»Ich war beschäftigt«, rief Moses über die Schulter. Er war bereits auf dem