Ein entscheidender Mosaikstein hat Marcel jedoch gefehlt. „Niemand hat mich auch nur im Geringsten darauf vorbereitet, was passiert, wenn du mit Anfang 20 als Österreicher den Gesamt-Weltcup gewinnst, im Rampenlicht stehst und bei der Heim-WM in Schladming Weltmeister wirst.“ Genau aus diesem Grund ist es Marcel auch jetzt nach dem Ende seiner Karriere ein entscheidendes Anliegen, seine Erfahrungen und Erlebnisse an Kinder, Jugendliche, Talente weiterzugeben. „Es braucht ein Heranführen an solche Situationen. Eine Ausbildung, was es heißt, eine Person der Öffentlichkeit zu sein.“ Denn es ist kein Geheimnis, dass Marcel genau dieser Teil des Lebens als Superstar am meisten Kraft gekostet hat. Eine Studie kommt sogar zu dem Ergebnis, dass Marcel in den letzten zehn Jahren seiner Karriere jener Österreicher war, der die meisten Interviews gegeben hat, Politiker inklusive. Deshalb sagt Marcel auch heute ganz ehrlich: „Ja, das Skifahren vermisse ich! Aber dieses permanente Beobachtetwerden und immer Leistung abliefern zu müssen, das vermisse ich nicht.“
Max Franz
Kein Rennläufer begleitet Marcel länger durch seine Karriere als Max Franz. März 1999: Marcel und Max treffen einander zum ersten Mal bei einem Bundesländervergleichsrennen. „Vom ersten Augenblick war mir klar: Puh, das wird a harte Partie“, erinnert sich Max an seine ersten Eindrücke vom jungen Marcel. „Danach war jedes Rennen gegen ihn ein brutaler Kampf, wir haben uns richtig gepusht.“ Max war sozusagen Marcels erster großer Rivale. „Ja, wir waren zu dieser Zeit in unserer Altersklasse die Hauptkonkurrenten. Aber wir sind gut damit zurechtgekommen, es hat sich eine Freundschaft entwickelt.“ Im Parallelschwung geht es Richtung FIS-Bereich, also zu den „Großen“. Doch während Marcel weiter voll am Drücker bleiben kann, wird Max 2007 von einem Oberschenkeltrümmerbruch brutal gebremst und muss 18 Monate abschreiben. Im Jänner 2009 folgt in einer Europacup-Abfahrt in Wengen ein Kreuzbandriss. „Zu dieser Zeit ist Marcel schon im Weltcup voll dabei gewesen, da ist er dann davongezogen.“ Max bleibt in der Speed-Schiene, also im Abfahrts- und Super-G-Bereich, Marcel wird zum Star in den technischen Disziplinen Slalom und Riesentorlauf. Der Draht zueinander bleibt immer gut, nicht zuletzt durch den gemeinsamen Kopfsponsor Raiffeisen. Im Sommer 2014 bilden Marcel und Max im damaligen Trainingskomplex von Gernot Schweizer in Abtenau eine Art Arbeitsgemeinschaft und quälen sich täglich stundenlang, um körperlich, konditionell bereit für den Winter zu sein. „Eine unglaubliche Schinderei, da ist gscheit was weitergegangen“, erinnert sich Franz. Die Bilder davon schaffen es sogar ins Kino und sind Teil des Kitzbühel-Films „One Hell of a Ride“.
Marcels Erfolgsbausteine liegen für Max auf der Hand: „Dieser unbändige Wille, ganz oben zu stehen, der Beste zu sein, war von Anfang an da. Plus Talent, plus das Glück und Können, ohne schwerere Verletzung durchzukommen.“ Dass sich Marcel dann im Laufe der Jahre sein eigenes Team rund um sich aufbauen kann, lässt ihn in eine eigene Liga aufsteigen. „Er konnte es sich genau so richten, wie er es brauchte. Diesen Bonus hat er sich aber hart, hart erarbeitet und verdient.“
Bad Hofgastein
In einer Klasse mit Anna
Marcel Hirscher als Schüler? Maria Wiesinger, die Direktorin der Tourismusschule Bad Hofgastein, weiß da einiges zu berichten. „Marcel war als Schüler genauso wie später als Skistar: bodenständig und gewissenhaft. Teilweise ist er sogar am Wochenende oder anderen freien Tagen gekommen, um versäumten Lernstoff nachzuholen, weil er so viel auf Trainings und Rennen war.“
Vier Jahre lang, von 2003 bis 2007, durchläuft Marcel in Bad Hofgastein die Ausbildung zum Hotelkaufmann. Das Skitraining kommt dabei nicht zu kurz. Oft monatelang hat das Skifahren den Vorzug gegenüber Mathematik & Co.. Erst ab März, wenn der Schnee schwindet und die Rennen vorbei sind, ist der Alltag dann mit jenem in einer „normalen“ Schule zu vergleichen. Zwei Jahre sitzt Marcel mit einer gewissen Anna Fenninger in derselben Klasse. Anna ist damals skifahrerisch schon so weit, dass sie eine Klasse überspringt, um schneller Richtung Weltcup-Einsätze zu kommen. Marcel bleibt hingegen noch im Salzburger Landeskader und schließt in Bad Hofgastein in voller Länge und mit gutem Erfolg als Hotelkaufmann ab.
Direktorin Wiesinger, die Marcel in Englisch unterrichtete, ist vor allem die Galanacht des Sports 2006 in Erinnerung. Die Schüler absolvieren dort einen Praxistest. Marcel hat die Ehre, sich um das leibliche Wohl von Benjamin Raich zu kümmern, der an diesem Abend als Österreichs Sportler des Jahres ausgezeichnet wird – nach Doppel-Gold bei Olympia in Turin fast logisch. „Eines Tages möchte ich genauso erfolgreich sein wie Benni Raich“, verrät Marcel seiner Direktorin. Marcels Kochkünste sind übrigens auch heute keinesfalls verstaubt, sein Lieblingsmenü für Herzblatt Laura? „Kürbiscremesuppe und Brokkoli à la Chef“.
Bilder von Marcel zieren noch heute die „Hall of Fame“, die die Schule in Bad Hofgastein eingerichtet hat. Dort sind auch Namen wie Max Franz, Philipp Schörghofer oder Hans Grugger zu finden. Wer so viele erfolgreiche Athleten hervorbringt, weckt natürlich das Interesse vieler, vieler Kinder und Eltern. Wiesinger weiß: „Durch den Erfolg unserer Absolventen sind wir als Anlaufstelle noch beliebter geworden. Wir haben leider nicht so viele Plätze wie Interessenten.“ Klar, welches skiverrückte Kind möchte nicht den Erfolgsweg eines Marcel Hirscher einschlagen?
Martina Stattmann ist vier Jahre lang Marcels Klassenvorstand in Bad Hofgastein: „Ich kann wirklich nur das Beste über Marcel sagen: menschlich geschätzt von allen in der Klasse und im Internat, immer höflich. Als Schüler ein Musterbild an Verlässlichkeit und immer vorbereitet.“ Beim Abschlussball sagt Stattmann zu einer Freundin: „Schau, da drüben der Marcel, der wird einmal ein richtig guter Skifahrer.“ Stattmann behält recht. Jahre später trifft sie Marcel noch einmal in Kitzbühel zwischen den Slalom-Durchgängen auf einen kurzen Plausch. „Ansonsten hat man sich über die Jahre aus den Augen verloren. Aber es war richtig schön, seine Siege mitanzusehen und einen kleinen Teil des Weges mitgegangen zu sein. Ich hab mich immer riesig für ihn und seine nette, bodenständige Familie gefreut.“
Der Sprung in den Weltcup
Kritik ist schnell verstummt
Im Dezember 2004 bestreitet Marcel seine ersten FIS-Rennen, also auf etwas ernsthafterem, weltweitem Niveau. Das erste in Sulden/Südtirol, das zweite in Schladming. In der darauffolgenden Saison gibt’s den ersten Sieg auf FIS-Ebene, am 17. Jänner 2006 bei einem sogenannten University Race in St. Lambrecht. Wenige Wochen später der nächste Schritt: Europacup-Debüt am 16. Februar 2006 in der Abfahrt (!) in Saalbach.
Mikes Tagebuch-Eintrag, 14. Jänner 2006
Balthasar Meisl, Trainer des Schiclubs Bischofshofen und Kollege bei der Trainerausbildung, wird einfach nicht müde, mir von diesem Jahrhunderttalent Marcel Hirscher zu erzählen. „Wirst sehen, da wird bald ein neuer Star kommen!“ Ich bin als Trainer der österreichischen Weltcup-Slalom-Herren-Mannschaft voll eingedeckt, hör nur mit einem Ohr zu und sag: „Jo, schau ma mal und träum ruhig weiter.“ Denn ich weiß, wie steinig der Weg ist, den so ein Talent noch vor sich hat.“
Die erste große Trophäe seiner Karriere staubt Marcel am 9. März 2007 ab: Riesentorlauf-Gold bei der Junioren-WM in Flachau. Einen Tag später folgt Slalom-Silber. Die Belohnung: ein Startplatz beim