Marcel Hirscher. Alex Hofstetter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alex Hofstetter
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783903183803
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zur Welt: Marcel. Zwei Monate später ziehen die Hirschers für den Sommer auf den Berg, genauer gesagt auf die Stuhlalm, die oberhalb von Annaberg auf 1500 Meter Seehöhe liegt. Ferdl erfüllt sich dort den Traum vom Leben als Hüttenwirt. 15 Saisonen lang betreiben die Hirschers dann von Mitte Mai bis November die Hütte. „Eigentlich dachte ich mir, dass ich als Hüttenwirt in den Bergen mehr zum Klettern komme. Aber ich hab die Arbeit massiv unterschätzt. Das waren sechs Monate Arbeit, Tag und Nacht.“

      Für den kleinen Marcel wird die Stuhlalm zu seiner zweiten Heimat. Auch heute kehrt er noch immer wieder dorthin zurück. „Das gehört jeden Sommer zu meinem Pflichtprogramm. Dann gibt’s Kaiserschmarrn. Und sofort kommen die Erinnerungen wieder, so schmeckt Kindheit.“

      Wahrscheinlich würden heute viele gestresste Menschen eine Menge Geld bezahlen, um so wie Marcel, fernab des Trubels, für ein paar Tage oder Wochen auf einer solchen Hütte zu leben. Klingt doch irgendwie romantisch. „Ja, klingt vielleicht romantisch“, sagt Marcel. „Aber jede Romantik, jede Schönheit verblasst, wenn die Familie vor lauter Arbeit fast erschlagen wird. Das war schon auch eine harte Probe für uns alle.“ In den ersten paar Jahren haben die Hirschers nicht einmal warmes Wasser. Die Sommer sind sehr intensiv, die Gäste oft bis spät in der Nacht wach und feierwütig. Nicht selten kommt es vor, dass ein Gast ein Bier zu viel tankt, sich zu später Stunde in der Tür irrt und nicht in der Toilette, sondern im Zimmer der Kinder Marcel und Leon steht.

      Dass die Kids angesichts der Fülle an Arbeit ein wenig zu kurz kommen, liegt auf der Hand. „Aber das ist in vielen, vielen anderen Gastronomiefamilien nicht anders“, weiß Marcel. Fußballspielen war natürlich möglich. „Aber wenn ich einmal zu fest geschossen hab, hat’s einen 15-minütigen Fußmarsch gebraucht, um den Ball wieder zu holen.“ Deshalb fährt Marcel oft mit dem Rad hinunter ins Dorf auf den Sportplatz oder ins Schwimmbad. Danach geht’s eine Stunde lang bergauf wieder zurück nach Hause! „Ich sehe die Phase auf der Stuhlalm als eine sehr lehrreiche Phase“, erzählt Marcel. „Ich schäme mich keinesfalls, wie ich aufgewachsen bin, ganz im Gegenteil. Aber man muss schon sagen, dass ich die Sommer in wahnsinnig ungewöhnlichen Verhältnissen verbracht habe.“ Sicher ist das einer der Hauptgründe, warum Marcel auch mit derart viel Ruhm im Gepäck immer geerdet und bodenständig geblieben ist. „Das müssen andere beurteilen, ob ich geerdet geblieben bin oder nicht. Ich denke aber schon. Ich weiß, was es bedeutet, für jeden Cent hart arbeiten zu müssen. Und ich weiß sehr gut zu schätzen, was ich erreichen durfte und was wir jetzt erleben dürfen.“ Gibt’s eines Tages eine Rückkehr auf die Stuhlalm als zweite Heimat? „Um kein Geld der Welt!“

      Der Ferdl-Faktor

      Niemand kennt den Skifahrer Marcel besser als sein Papa, Ferdinand Hirscher. „Unsere Füße empfinden gleich“, sagt der berühmteste Schnauzbart im österreichischen Sport. Damit ist eigentlich fast alles gesagt. Schon als Zweijähriger steht Marcel auf den Ski. Sein Gleichgewichtssinn und die Art, wie er schon als kleiner Knirps mit Schnuller im Mund bremst, sind für sein Alter „nicht normal“. Marcel steht im Winter nur dann nicht auf den Ski, wenn er in der Schule ist oder schläft. „Aber wir dachten keine Sekunde daran, dass er ein Profi-Rennfahrer werden könnte“, sagt Ferdl.

      Nach einer kurzen Nachdenkpause gesteht der Papa aber: „Es war unwahrscheinlich, wie schnell der Bub skigefahren ist. Es war unglaublich. Marcel hat Rennen oft mit zehn Sekunden Vorsprung gewonnen.“ In diesem Zusammenhang fallen Ferdl vor allem die österreichischen Schüler-Meisterschaften in der Kombination in Turnau ein. Bei der Besichtigung macht Ferdl Marcel auf einen Hügel aufmerksam, warnt ihn vor zu viel Risiko an dieser Stelle. „Er ist trotzdem drüberradiert und in den Wald gefahren. Marcel fuhr vom Wald zurück auf die Piste und fuhr weiter ins Ziel. Bei der Siegerehrung haben sie ausgerufen: ‚Staatsmeister in der Kombination: Marcel Hirscher!‘ Was da für ein Wirbel war, alle dachten, dass das unmöglich sei, der Hirscher ist ja im Wald gestanden. Aber er war trotzdem der Schnellste.“ Aber denkt man sich als Papa nicht spätestens dann: Okay, aus dem könnte wirklich einmal ein Großer werden? Doch Ferdl dachte und denkt ganz anders: „Nein! Man muss sich doch nur anschauen, wie viele Talente es NICHT ganz nach oben geschafft haben. Wie oft hört man in allen möglichen Sportarten: Wahnsinn, da kommt ein Talent daher! Aber ein Kreuzbandriss reicht und die Sache kann erledigt sein. Wir haben immer den Ball flach gehalten, waren immer zurückhaltend. Wollten nie, dass Marcel als Kind mit irgendwelchen großartigen Ski-Team-Austria-Rennanzügen herumläuft. Uns war immer nur wichtig: eine solide technische Ausbildung, die Basis muss passen, das Rüstzeug. Der Rest ist nicht immer steuerbar, nicht vorhersehbar.“

      Außerdem gibt es auch viele Tage, an denen nicht alles so lustig ist. „Wenn der kleine Bub stürzt und vielleicht sogar blutet, dann denkst du dir: Was tust du dem Kind eigentlich an?“ Und auch die Belastungen, denen Marcel im Laufe der Jahre durch seinen Ruhm und seinen Bekanntheitsgrad ausgesetzt ist, sind für die Eltern natürlich nicht immer schön mitanzusehen. „Schwierig, wenn man derart fremdbestimmt leben muss. Der war beleidigt, der war beleidigt. Da dachte sich Marcel oft: Okay, dann mach ich halt das auch noch. Mit derartigen Begleiterscheinungen war natürlich niemals zu rechnen. Wir haben das Rennfahren ja aus Spaß an der Sache gemacht!“ Unterm Strich: „Würdest du alles wieder so machen, Ferdl?“ Die Antwort: „Ich weiß es nicht. Das Drumherum ist schon sehr zäh. Da werden einige sagen: ja, was jammert der denn, der verdient einen Haufen Geld damit. Aber wir haben das wegen unserer Leidenschaft fürs Skifahren und für die Bewegung in der Natur gemacht! Und nicht wegen irgendeinem Geld. Auf der anderen Seite: Ja, ich würde alles wieder so machen. Denn gibt’s was Schöneres, als einen herrlichen Riesentorlauf zu fahren, mit dem Tempo und den Fliehkräften zu spielen …?“

      Ferdl muss nicht einmal vor Ort sein, um stets Marcels wichtigste Stütze bei der Wahl des richtigen Materials zu sein. „Ich brauch nur Videos vom Schnee zu sehen und wie die Ski drauf liegen. Im Laufe der Jahre hab ich halt ein Auge dafür entwickelt.“ So ist es unzählige Male. Marcel – der nur wenige Schwächen hat, eine davon ist allerdings mangelnde Entscheidungsfreudigkeit – überlässt Ferdl sehr oft die Letztentscheidung bei der Materialwahl. Vor allem in heiklen Situationen.

      So ist es auch bei Olympia 2018 in Südkorea. Eine Reise nach Pyeongchang ist für den Papa ausgeschlossen, denn er hat Flugangst. Ferdl bleibt daheim in seiner Skischule (freeride-alpin) in Annaberg und leidet aus der Ferne mit, weil Marcel in den Abfahrtstrainings mit dem Finden des richtigen Setups kämpft. Im Endeffekt finden Marcel und sein Team beim letzten Training den Stein der Weisen und legen damit die Basis für Kombi-Gold. Nach dem Rennen bittet ein ORF-Team Ferdl in Annaberg zum Interview. In diesem Moment ruft Marcel aus Südkorea an, Ferdl hebt ab und heult wenige Augenblicke später vor Glück drauf los. Es sind Bilder, die zu den schönsten und emotionalsten in Marcels Karriere zählen.

      Ferdls Akribie beim Suchen nach den entscheidenden Hundertsteln, sein „Material-Wahn“, wie es selbst Marcel bezeichnet, all das hat den Ursprung in der Kindheit. Denn Ferdl wäre selbst gerne ein Weltcup-Rennläufer geworden, von seinem Elternhaus gab es allerdings nur wenig bis keine Unterstützung. Bei einem Rennen auf Landesniveau fuhr Ferdl, damals 16 Jahre alt, gemeinsam mit David Zwilling (dem späteren Abfahrts-Weltmeister 1974) mit dem Schlepplift. Zwilling sah sich die Ausrüstung seines Mitfahrers an und meinte: „Ich glaub, es wär g’scheiter, du bleibst daheim mit dem Material.“ Ein prägendes Erlebnis. „Papa wollte danach seinen Kindern um jeden Preis so ein Schicksal ersparen“, erzählt Marcel. „Ohne ihn als Triebfeder wäre ich niemals so erfolgreich geworden. Nur so wurde möglich, was jetzt auf meinem Datenblatt steht.“ Ferdls Motto lautete: „Immer weiter, immer weiter! Wir sind noch lange nicht fertig, noch lange nicht am Ende.“ Den Satz ‚Es geht nicht besser‘ duldet Ferdl einfach nicht und steht damit in krassem Gegensatz zu all denen, die viel zu schnell zufrieden sind.“ So viele Jahre hat Marcel diese unermüdliche Unterstützung erlebt, erleben dürfen, doch er ist noch immer davon fasziniert: „Diese Genialität und dieser Wille, den Papa tagtäglich gezeigt hat, ist nach wie vor unglaublich beeindruckend für mich. Gutes war niemals gut genug.“