Felix Neureuther
Nicht nur Marcel bekommt noch heute Gänsehaut, wenn er an den 17. Februar 2013 in Schladming denkt. „Niemand hätte ein schöneres Drehbuch für diesen Tag schreiben können. Marcel gewinnt vor 50.000 Österreichern, noch dazu vor dem Piefke, und rettet damit die WM! Das war Skifahren pur“, sagt Felix Neureuther, der hinter Marcel Silber holt und üblicherweise nicht zu Übertreibungen neigt. Aber für ihn steht fest: „So eine Stimmung wie in diesem Moment, als Marcel in Schladming, bei ihm daheim, durchs Ziel fuhr und Weltmeister wurde, wird der Skisport niemals wieder erleben.“ Momente für die Ewigkeit. Und Felix gesteht: „Ich hab geführt, ich hätte WM-Gold gewonnen. Aber ich stand im Ziel, schloss die Augen, saugte die Atmosphäre förmlich auf und sagte mir: Hoffentlich gewinnt Marcel, ich will erleben, was da los ist, wenn Marcel hier Gold holt.“ Schladming war der Höhepunkt der sportlichen „Rivalität“ der beiden Freunde. Ein Spannungsbogen, der sich in den Jahren davor aufgebaut hatte. „Marcel hat uns alle, also auch mich, inspiriert, noch mehr Gas zu geben, noch besser zu werden. Er hat alle mitgezogen und den Sport so auf ein neues Level befördert.“
Schladming 2013 ist für Felix auch ein Spiegelbild von Marcels gesamter Karriere: unter höchstem Druck auf allerhöchstem Niveau abliefern. Da war Marcel einfach unerreichbar, auf einer anderen Ebene als seine Konkurrenten. „Marcel ist nie, und zwar wirklich nie, unter Druck eingeknickt. Je schwieriger es wurde, desto mehr konnte sich Ski-Österreich auf ihn verlassen“, sagt Felix. „Und an dieser Stärke sind seine Gegner im Laufe der Jahre reihenweise verzweifelt.“
Die erste Begegnung mit dem Hirscher-Clan war für Felix gleich eine ganz bezeichnende. „Ich war 2005 bei den Österreichischen Meisterschaften. Besichtigung. Ich war früh dran. Vor mir war nur ein älterer Herr mit Schnurrbart auf dem Kurs, der die Ski für seinen Sohn testete. Ich dachte mir: Was macht der denn da!?“ Eineinhalb Jahre später sah Felix beim Weltcup-Slalom in Bad Kleinkirchheim den älteren Herrn wieder. „Den kenn ich doch.“ Es war Ferdinand Hirscher, Marcels Vater. „Unfassbar, welchen Aufwand die Hirschers schon damals betrieben. Da testet der Papa bei den österreichischen Meisterschaften in aller Früh den Schnee, um den richtigen Ski für den Sohn herauszufiltern. Unglaublich, wie sehr sich der Ferdl immer ins Zeug gehaut hat!“ Auch Felix‘ Vater Christian, der ja selbst ein Ski-Star war und sechs Weltcup-Rennen gewann, gab seinem Junior immer Tipps und Inputs. „Aber was Marcel und Ferdl praktizierten, hat eine ganze Sportart geprägt. Diese Akribie war und ist einmalig. Und extrem clever. Aber das funktioniert natürlich auch nur dann, wenn die Beziehung Papa-Sohn auf wirklich stabilen Beinen steht.“ Schon 2007 in Bad Kleinkirchheim ist Felix vom aufstrebenden Marcel schwer beeindruckt. „Marcel war damals körperlich nicht einmal die Hälfte im Vergleich zu seinen Glanzzeiten. Aber dieses Bürschchen ist mit einer Intensität Ski gefahren, dass ich mir dachte: Halleluja, da kommt einer daher!“ Angesichts dieser Fahrweise dachte sich Felix aber auch: „Ganz ehrlich, das kann auf Dauer nicht gut gehen. Der Bursche wird sich bald mal gröber verletzen, fürchte ich!“ Und wirklich: Wer Marcel über die Jahre Ski fahren sah, mag kaum glauben, dass ein Kahnbeinbruch (2011) und ein Knöchelbruch (2017) seine einzigen schwereren Verletzungen waren. Der Bandapparat und vor allem Marcels Knie blieben völlig verschont! „Keine schwere Verletzung, so gut wie keine Ausfälle. Achtmal hintereinander Gesamt-Weltcup-Sieger. Das ist abartig. Abartig! Das sind Leistungen und Rekorde für die Ewigkeit.“ Auf der Piste war Marcel also der brutale Killer mit den Nerven aus Stahl. Und abseits davon? „Ein herzensguter Mensch, wohlerzogen, lustig, freundlich. Und das wirklich Schöne an unseren Gesprächen ist: Das Skifahren ist meistens nur Nebensache, es gibt wichtigere Dinge im Leben.“
„Nur“ Silber
„Der Zweite ist der erste Verlierer.“ Kein österreichischer Sportler seit Hermann Maier lebte diese knallharte, aber eben nur den ganz, ganz Großen vorbehaltene Gewissheit wie Marcel. Besonders brutal bekommt er sie bei den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi zu spüren. Es sind Marcels zweite Spiele. Beim Debüt 2010 in Kanada waren es für den damals 20-jährigen Senkrechtstarter die undankbaren Plätze vier und fünf geworden. In Sotschi geht Marcel nun erstmals mit der „Gold-Pflicht“ im Gepäck an den Start. WM-Gold und Gesamt-Weltcup sind auf der To-do-Liste längst erfolgreich abgehakt. Die Fragen nach der „nur“ noch fehlenden Olympia-Goldenen sind bohrend, hartnäckig. Schon bei den Vorbereitungen auf dem Muldenlift der Reiteralm wissen Marcel und sein Team: In Russland spielt das Wetter verrückt, teilweise zweistellige Plusgrade, Frühlingsschnee pur. Also alles andere als Hirscher-Bedingungen. Marcel liebt es eisig, je härter, desto besser. Marcel erinnert sich: „Wir wussten, dass das alles eigentlich schon im Vorhinein zum Scheitern verurteilt ist.“
Marcel versucht, den Druck nicht zu sehr an sich heranzulassen. „Volle Attacke, Marcel! Und wenn’s nicht klappt, kann ich mich auch nicht aus dem Fenster stürzen.“ Das tut er nach dem denkbar unglücklichen Start (Vierter im Riesentorlauf) natürlich auch nicht, gesteht aber: „Ich fühl mich richtig miserabel.“ Als Marcel am Tag danach im Österreich-Haus auftaucht, sieht die Sache schon wieder etwas anders aus. Und an diesem 20. Februar 2014, einen Tag nach dem Riesentorlauf und zwei Tage vor dem Slalom, lässt er auch richtig tief in sein Inneres blicken. Dieser Ski-Champion, dieser Nationalheld hatte nämlich allen Ernstes Angst gehabt, nach der wieder verpassten Olympia-Medaille von Fans und Medien „gesteinigt“ zu werden! „Ich hab schon von mir gesehen: Hirscher ist der Loser der Nation, ein Olympia-Tourist“, sprudelt es aus ihm heraus. „Das Gegenteil war der Fall. Das Feedback war super. Das zeigt, dass meine bisherigen Erfolge geschätzt werden. Dass ich auch als Mensch geschätzt werde.“ Befreit von dieser Versagensangst geht Marcel in den Slalom. Wieder sind es absolut keine Hirscher-Bedingungen. Marcel und sein Team graben die Skischuhe sogar in Eisbeutel ein, um das Ruder vielleicht doch noch herumzureißen. Gold schnappt sich aber Altmeister Mario Matt, ein wahrer Experte für Rennen im Frühlingsschnee. Mit Silber gibt’s für Hirscher die erste Olympia-Medaille. Und dass es überhaupt noch Silber werden konnte, verdankt Marcel Ante Kostelić. Der Papa von Ivica flaggt nämlich einen zweiten Durchgang aus, der eigentlich unfahrbar ist. Marcel meistert die Aufgabenstellung aber bravourös und katapultiert sich noch vom neunten (!) Platz zur Halbzeit auf Rang zwei.
Aber Marcels Enttäuschung über das verpasste Gold ist nicht zu übersehen, denn er weiß: Die Fragen nach dem fehlenden Olympia-Gold gehen jetzt in eine mindestens vierjährige Verlängerung … Dass Marcel trotz Silber nicht in Jubelstürme ausbricht, wird ihm mancherorts schlecht ausgelegt. „Ich hab viel Kritik geerntet, dabei war ich doch einfach nur ehrlich. Mario war an diesem Tag der verdiente Sieger und hat völlig zu Recht gewonnen. Aber dass ich das ganz große Ziel verpasst hab, dass ich ein Sportler bin, der Erster werden will, das darf man doch zeigen, oder nicht?“
Südkorea
Ein kleiner Tempel in Yongpyong, Südkorea. 23. Februar 2018, 06.33 Uhr morgens. Mit dreiminütiger Verspätung biegt ein schwarzes Auto um die Kurve, hält vor dem Tempel. Marcel und Freundin Laura klettern aus dem Wagen. „Gemmas an, wir müssen zum Flughafen, wollen endlich heim nach Österreich“, sagt Marcel. Kramt in seiner Jackentasche und holt zwei Stück Gold hervor. Es sind DIE zwei Stück Gold, mit denen er seine Karriere endgültig perfekt gemacht hat. Marcel posiert im Tempel mit den zwei Olympia-Goldmedaillen, packt trotz früher Morgenstund und Wahnsinnswochen für Fotograf Christof Birbaumer und die letzten Fotos auf südkoreanischem Boden sein schönstes Lächeln aus. Danach ab ins Auto, ab zum Flughafen Seoul und ab ins noch 8000 Kilometer entfernte zu Hause. Mission erfüllt.
Hirscher-Team Gepäck für Mission Olympia
Eine Mission, die knapp drei Wochen davor mit dem Abflug aus Salzburg Richtung Asien beginnt. „Eigentlich mag ich den Jetlag in die Asien-Richtung überhaupt nicht“, sagt Marcel. Außerdem