Mikes Tagebuch-Eintrag, 16. August 2018:
Ferdl! Eine ungemein interessante Person mit zwei Gesichtern, mit zwei Welten. Auf der einen Seite: ein (Ski-)Verrückter durch und durch! Vollste Professionalität, alle Regeln werden eingehalten, ein Programm wird abgespult, alles wird für Marcels Erfolg untergeordnet, da gibt es kein Links- oder Rechts-Abweichen. Das Motto: Geht nicht, gibt’s nicht, alles wird hinterfragt! Scheinbar unmögliche Sachen werden umgesetzt. Auf der anderen Seite: Ferdl ist als Privatperson ungemein offen und interessiert an verschiedensten Themen. Prinzipiell ist er, wie Marcel, das Gegenteil eines Rockstars: keine Alkoholpartys, keine Skandale. Einfach alles gut bedacht, sehr bodenständig, er bildet sich nicht ein, jemand Besserer zu sein. Fanatismus und Perfektionismus, gepaart mit einer gesunden Portion Menschlichkeit und Freundlichkeit – das sind Ferdls zwei Gesichter. Und gleichzeitig auch jene von Marcel! Die beiden können sich wirklich nicht abstreiten! Marcel ist eben ein Produkt aus Ferdl und Sylvia. Auch sie sieht die Sachen immer sehr nüchtern, ist immer total bescheiden, lieb – halt eine richtige Mama!
Matthias „Hiasi“ Walkner
Es gibt nur einen Sportler, der mit derselben Erfolgsmedizin geimpft ist wie Marcel Hirscher. Kein Skifahrer, sondern Österreichs Motorsport-Held Matthias Walkner, der 2018 als erster Österreicher die Motorradwertung der legendären Dakar-Rallye gewinnt. „Wenn Hiasi seine Abenteuergeschichten von der Dakar erzählt, komm ich mir als Skifahrer immer ziemlich langweilig vor“, sagt Marcel voller Bewunderung.
Es ist Ende der 1990er-Jahre. Die beiden Papas Ferdinand (Hirscher) und Matthias senior (Walkner) sind Motocross-Kollegen. Die Söhne Marcel und Matthias junior lernen einander aber beim Skifahren kennen. Es folgt die Zeit, in der die Jungs ihre sportlichen Karrieren vorantreiben, jedoch in unterschiedliche Richtungen: Marcel als Skifahrer, Matthias auf dem Motorrad. Man verliert sich ein wenig aus den Augen. 2009 gewinnt Marcel sein erstes Weltcup-Rennen in Val d’Isere. Zur Spontan-Party in Annaberg kommt auch Matthias. Die alten Kumpels sind wieder vereint – und bleiben es auch. 2010 bietet Ferdl Hirscher Matthias seine Hilfe beim Motocross-Training an. Hiasi nimmt natürlich dankend an. Was folgt, ist sechs Jahre lang Leidenschaft pur. Ferdl kniet sich in die Arbeit mit dem Zweirad-Talent keinen Millimeter weniger als in jene mit Marcel hinein. „Die beiden Hirschers haben mir die Augen geöffnet, wie sehr man einen Sport ausreizen kann. Sie kitzeln genau diese drei, vier Prozent frei, mit denen Marcel dann eben ein paar Hundertstel schneller ist als alle anderen. Oder mit denen du dann die Dakar-Rallye gewinnst.“
Matthias ist beeindruckt und dankbar: „Ferdl hat das immer komplett unentgeltlich gemacht. Einfach aus Leidenschaft. Er wollte helfen, weil er nicht einsah, dass nur Skifahrer oder Fußballer Unterstützung bekommen.“ Und weil Motocross neben Skifahren seine zweite große Sportliebe ist. Nach einem WM-Rennen von Matthias Walkner in Loket in Tschechien fährt Ferdl am Abend zurück nach Österreich. Um zwei Uhr nachts läutet bei Matthias das Telefon. „Der Ferdl war’s. Ich dachte mir: Mist, der hat eine Autopanne. Aber er hat nur gesagt: Ich hab die Videos vom Rennen analysiert. In der einen Kurve bist du fürchterlich gefahren, das musst du morgen besser machen.“ Wenn sich Walkner bei manchen Trainings richtig gut fühlt, sieht Hirscher senior das meistens ein wenig anders: „Walkner, heut bist einen schönen Scheiß zamg’fahren.“ Aber man kann ihm niemals böse deswegen sein. „Hart und direkt, aber fair, das ist seine Art. Denn man wusste immer: Er will wirklich nur das Beste für einen. Und wenn ein Trainer so wie der Ferdl bereit ist, so viele Entbehrungen auf sich zu nehmen, und so Gas gibt, dann geht man auch als Athlet übers Limit.“ Eines der größten Rätsel und Phänomene in Marcels Karriere ist seine unglaubliche Nervenstärke. Auch dafür hat „Hiasi“ die Erklärung parat. Ferdl stellt Marcel schon in der Kindheit rund um die Stuhlalm immer wieder vor Übungsaufgaben: über Steine zu hüpfen und zu balancieren, auf einen kleinen Hügel zu klettern zum Beispiel. „Dabei wollte er nie, dass er der Beste oder Schnellste ist. Marcel sollte immer nur sein Maximum versuchen, das Beste aus sich herausholen.“ So ist Marcel aufgewachsen: Wenn er seine „Hausaufgaben“, sprich das Training und die Materialabstimmung, nach allerbestem Wissen erledigt, dann kann er mit einem guten Gefühl in den Tag X gehen. Wenn dann einer besser ist, dann kann er auch nichts machen. „Wie vor einer Mathematik-Schularbeit. Da weißt du ja tief in dir drinnen auch, ob du perfekt vorbereitet bist oder einfach mit dem Lernen zu spät begonnen hast.“ Es sind Sätze, die von Marcel selbst sein könnten. Die Marcel vor wichtigen Rennen immer und immer sagt. Und die offenbar wirklich aus seinem Innersten kommen. „Marcel wusste immer, was er dem Ganzen untergeordnet hat. Das gab ihm ein Gefühl der Sicherheit, das hat ihn im Kopf so stark gemacht.“ Wenn Walkner seinen Freund bei den Rennen sieht, muss er sich oft die Augen reiben: „Privat ist er ruhig, entspannt, manchmal schon auch impulsiv. Aber dann steht dieser Killer im Starthaus und liefert unglaubliche Leistungen ab.“ Hiasi ist sich sicher, dass Marcel auch als Fußballer oder Tennisspieler Karriere gemacht hätte. „Ein unglaubliches Bewegungstalent!“ Als Walkner nach seinem Dakar-Sieg selbst in den Fokus der Presse und Öffentlichkeit gerät, holt er sich Tipps von Marcel. Dafür gibt’s umgekehrt Ratschläge für die Motocross-Piste. Wie stellt sich der Ski-Star auf dem Bike an? „Für einen Skifahrer ganz brav.“ – Worte, die aus dem Mund eines Ferdl-Hirscher-Schülers fast wie euphorisches Lob zu verstehen sind.
Fiese Tricks beim Schülerrennen
Kinder und der Leistungsdruck. Ein viel diskutiertes Thema. Über das nicht zuletzt Marcels Papa Ferdl stundenlang erzählen könnte. „Spätestens im Kindergarten und dann in der ersten Klasse Volksschule geht dieser Druck des Lebens für unsere Kinder los“, weiß Ferdl. Für den es deshalb nie eine Option war, Marcel in ein Ski-Internat zu stecken. „Da hätte mir das Herz geblutet. Die ganze Woche nicht da, Samstag und Sonntag Rennen, dann Wäschewaschen und am Montag um sechs Uhr früh wieder ins Internat? Das entspricht nicht meinen Vorstellungen, das wollte ich Marcel nie antun.“
Mit zehn Jahren steht Marcel am Start eines Nachwuchsrennens. Der Vater eines Konkurrenten sagt zu ihm: „Hirscher, pass auf, beim fünften Tor kommt schon das Gras raus. Da hat’s die Leute reihenweise aus der Bindung rausg’haut, einer hat sich sogar den Haxn brochen!“ Marcel nimmt Tempo raus, kommt zur vermeintlichen Problemstelle. „Und was war? Gar nichts, kein Gras, sondern alles bestens! Er wollte nur, dass ich unnötig abbremse …“ Im Alter von 13 Jahren werden Marcel im Startbereich eines Rennens in Hinterstoder sogar die Skier gestohlen. Papa Ferdl erinnert sich: „Auf einmal war ein Papa von einem anderen Läufer mit Marcels Skiern dahin! Ich hab ihn noch erwischt und gefragt, was das denn soll? Er meinte, dass er unabsichtlich die falschen Ski erwischt hat. Was natürlich ein Blödsinn war, denn Marcels Name stand gut sichtbar auf den Skiern …“
Es sind Psycho-Spielchen und fiese Tricks wie diese, die im Nachwuchsbereich keine Seltenheit, ja, fast gang und gäbe sind. Als Marcel 14 Jahre alt ist, werden Studien präsentiert, die angesichts der damals neuen Carving-Ski besagen: