»Und vergesslich obendrein!« Tatjana trat zu ihnen und wedelte mit einem Portemonnaie durch die Luft. »Das hat Florentina gerade auf der Bank gefunden. Es gehört Laurenz.«
Fee überlegte nicht lange.
»Ich bringe es ihm!«
Ehe es sich Daniel versah, war seine Frau auch schon losgelaufen.
»Halt, Laurenz, warte! Du hast deinen Geldbeutel vergessen.« Ihre Stimme hallte fröhlich von den Häuserwänden wider.
Das Ehepaar war am Ende der Straße angelangt. Laurenz drehte sich um. Er wechselte ein paar Sätze mit seiner Frau, ehe er im Laufschritt über den Fahrradweg lief. Im selben Moment schoss ein Fahrradfahrer um die Ecke.
»Vorsicht!« Fees gellender Schrei kam zu spät. Der Zusammenstoß war unvermeidlich. Nur einen Sekundenbruchteil später geschah das Unglück. Ein Krachen, Schreien, das Scheppern von Aluminium und Blech auf dem Asphalt. Beim Aufprall zerbarst die Fahrradlampe, Scherben spritzten über den Weg.
Daniel zögerte nicht und stürzte an seiner Frau vorbei auf die beiden Männer zu, die sich stöhnend auf dem Boden wälzten. Melanie stand wie zur Salzsäule erstarrt, die Hände schützend auf den Bauch gelegt. In Windeseile bildete sich eine Menschentraube um die Verunglückten. Von dem Lärm aufgeschreckt, trat Tatjana aus der Bäckerei. Ihr eingeschränktes Sehvermögen ließ keinen Schluss auf das zu, was gerade geschehen sein mochte. In so einer Situation war sie ganz auf ihr Hörvermögen und die übrigen Sinne angewiesen. So stand sie zunächst nur da und lauschte konzentriert.
»Lassen Sie mich durch! Ich bin Ärztin«, verlangte Felicitas, als sie gleich darauf ihre Fassung wiedergefunden hatte.
Murrend machten die Menschen Platz. Einigen war anzusehen, dass sie ihre Worte für eine Lüge hielten. Zum Glück zückte niemand ein Handy, um die beiden Verletzten zu filmen.
»Ruf in der Klinik an! Wir brauchen zwei Wagen.« Über den Fahrradfahrer gebeugt, gab Daniel mit ruhiger Stimme seine Anweisungen.
Fee tat, was er von ihr verlangt hatte, ehe sie sich um den verletzten Laurenz kümmerte. Tatjana dagegen hatte die Umgebung inzwischen sondiert. Ein Geräusch war ihr besonders aufgefallen: Ein leises Weinen, das kaum gegen den Lärm ankam. Sie kannte die Stimme. Doch auch das Parfum der weinenden Frau sprach eine eindeutige Sprache.
»Melanie?« Tatjana trat auf die werdende Mutter zu, die noch immer am Ende der Straße stand. »Sie sind doch Melanie?«
»Was …, was ist mit Laurenz? Wie geht es ihm?«, fragte Melanie statt einer Antwort.
»Ich weiß es nicht. Aber ich bin sicher, dass Fee und Daniel das Richtige tun«, versprach Tatjana, als sich die werdende Mutter plötzlich zusammenkrümmte.
*
»Wen haben wir?«, rief die Notärztin Frau Dr. Lekutat, als sich die Türen der Ambulanz öffneten und die Kollegen eine Liege hereinschoben.
»Laurenz Grün, 35 Jahre alt. Er wurde von einem Fahrrad angefahren. Verdacht auf Wirbelsäulentrauma mit Sensibilitätsstörungen in den Beinen.« Der Rettungsarzt Erwin Huber drückte ihr ein Klemmbrett in die Hand. »Gleich kommt noch der Fahrradfahrer, mit dem er zusammengestoßen ist. Außerdem haben wir eine Schwangere mit vorzeitigen Wehen.«
»Zum Glück ist der Kollege Weigand gerade gekommen.« Im Laufschritt überflog sie die Informationen. »Der kann den Rest übernehmen.«
Keine Minute später öffneten sich die Türen erneut und Daniel Norden kam herein. Er begleitete die Liege mit dem Fahrradfahrer, der sich neugierig umsah. Felicitas folgte den beiden auf dem Fuß. Sie schob den Rollstuhl mit Melanie, die sie direkt in die Gynäkologie brachte.
Daniel dagegen begrüßte den Kollegen Weigand.
»Was machst du denn hier? Ich wähnte dich an einem verschwiegenen Tisch in einem schummrigen griechischen Restaurant.«
Matthias verzog das Gesicht.
»Da war der Wunsch wieder einmal der Vater des Gedanken«, seufzte er. »Sandra hat es vorgezogen, sich zum Dienst einzutragen. Und bevor ich meinen Kummer in Ouzo ertränke, mache ich mich lieber nützlich.«
»Solche ambitionierten Mitarbeiter lobe ich mir.« Daniel lachte. »Das hier ist übrigens Theo Schulte. Er hatte eine Kollision mit dem anderen Herrn.«
Matthias erinnerte sich an den lädierten Laurenz.
»Sie scheinen den größeren Dickschädel zu haben«, wagte er einen kleinen Scherz in Theo Schultes Richtung.
Der verstand nicht und tippte stattdessen zufrieden auf den Helm, der neben ihm auf der Liege lag.
»Ich würde sagen, den besseren Helm. Die Investition hat sich gelohnt.«
Hinter seinem Rücken schnitt Matthias eine Grimasse.
»Trotzdem entführe ich Sie jetzt in mein Behandlungszimmer und danach in die Radiologie, um etwaige Verletzungen auszuschließen.«
»Super! Ich war noch nie im Krankenhaus. Da kann ich meinen Kollegen was erzählen.«
Weder Dr. Weigand noch Daniel Norden beneideten die Mitarbeiter des Herrn Schulte.
»Der arme Mann kann einem richtig leid tun«, sagte er zu Schwester Linda, als Matthias mit seinem Patienten um die Ecke verschwunden war. »Wenn er sonst nichts zu erzählen hat.« Ehe Linda etwas erwidern konnte, sah er auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde bis zu Lennis Termin. Eine halbe Stunde, die Daniel gut nutzen konnte. Er hatte kaum den Behandlungsraum betreten, in dem Melanie von Dr. Thoma untersucht wurde, als Fee auf ihn zustürzte. Sie fasste ihn an der Hand und zog ihn mit sich nach draußen. Jetzt, da sie die Verantwortung an einen Kollegen abgegeben hatte, begannen ihre Nerven zu flattern.
»Oh, Dan, ich mache mir solche Vorwürfe.« Sie ließ seine Hand los und begann, vor ihm auf dem Flur auf und ab zu laufen. »Als ich Laurenz gerufen habe, war der Fahrradfahrer nicht da. Das beschwöre ich. Er kam plötzlich um die Ecke geschossen. Wie aus dem Nichts.« Ihr hilfloser Blick klebte förmlich an Daniel. »Wenn ich ihn nicht gerufen hätte, wäre das alles nicht passiert.«
Daniel nahm seine Frau an den Schultern und schüttelte sie leicht.
»Beruhige dich, Feelein! Selbstvorwürfe bringen uns jetzt auch nicht weiter. Und Laurenz und Melanie schon gar nicht. Wie geht es ihr überhaupt?«
Fee zuckte mit den Schultern.
»Der Schock hat offenbar Wehen ausgelöst. Mehr weiß ich noch …«
Die Tür des Behandlungsraums klappte zu.
»Mutter und Kind sind wohlauf.« Der Gynäkologe Theo Gröding trat zu den beiden.
»Gott sei Dank!«
Doch Gröding war noch nicht fertig. »Allerdings ist wirklich eine Wehentätigkeit zu beobachten. Deshalb werde ich Frau Grün zur Beobachtung hier behalten und sie zunächst mit hoch dosiertem Magnesium behandeln.« Endlich lächelte er, wenn auch verhalten. »Schwester Regina bringt die Patientin auf ihr Zimmer.« Er nickte dem Chef und seiner Frau zu und machte sich auf den Weg auf seine Station.
Daniel sah ihm nach.
»Na, siehst du, Feelein. Alles wird gut! Du musst nur daran glauben«, sagte er sanft.
»Trotzdem habe ich ein schlechtes Gewissen.« Unglücklich ließ sie den Kopf hängen.
»Das sollte lieber der Fahrradfahrer haben. Immerhin war er es, der einfach so um die Ecke geschossen ist.« Daniel Norden warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr. Allmählich wurde es Zeit, sich auf Lennis Untersuchung vorzubereiten. »Tust du mir einen Gefallen?«
»Natürlich.« Fee sah ihn fragend an.
»Ich habe Lenni doch versprochen, heute den Gesundheitscheck zu machen …«
»Richtig. Das hatte ich völlig vergessen.«
»Ich