Einen kurzen Augenblick fühlte sich Svenja allein und verlassen. Doch der Moment verging so schnell, wie er gekommen war. Sie streckte die Hand aus und streichelte die Finger ihrer Mutter.
»Mama?«
Viola lächelte, noch bevor sie blinzelnd die Augen öffnete.
»Svenja, da bist du ja endlich.« Im Gegensatz zu ihrer verwaschenen Stimme war der Ausdruck in ihren Augen klar. »Wo hast du nur so lange gesteckt?«
»Ich war bei Kai.«
Violas Augenbrauen zogen sich zusammen.
»Ich wusste es«, flüsterte sie. Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Und?«
»Es war sehr wichtig, dass ich ihn gefunden habe.« Svenja machte eine Pause. »Für uns alle.«
»Dann bleibst du hier bei ihm in München?«, ließ die nächste, bange Frage nicht auf sich warten.
Svenja lachte leise.
»Nein. Aber natürlich bleibe ich erst einmal hier, bis klar ist, wie es mit dir weitergeht. Diese Gelegenheit können Kai und ich nutzen. Wir wollen uns ab jetzt öfter treffen und uns kennenlernen.«
Viola schluckte und nickte tapfer, ehe sie beschloss, das Thema zu wechseln.
»Daniel hat mir vorhin von deiner Blutprobe erzählt. Du bist gesund!« Sie drückte Svenjas Hand. »Ich glaube, das ist das allergrößte Geschenk. Ich hätte mir nie verziehen, wenn ich dir meine Krankheit vererbt hätte …«
»Mama, bitte!«, mahnte Svenja streng. »Du solltest dich langsam an den Gedanken gewöhnen, dass nun mal nicht alles in deiner Hand liegt.«
»Du hast ja recht«, gestand Viola mit flatternden Augenlidern. Die Anstrengungen der Operation, die Aufregung der vergangenen Tage steckten ihr noch in den Knochen. »Keine Angst. Ich habe mir vorgenommen, vieles anders zu machen.« Sie schloss die Augen und atmete schwer.
Es wurde Zeit für Svenja, aufzubrechen.
»Mach dir nicht so viele Gedanken, Mama. Alles wird gut. Gemeinsam finden wir einen Weg. Du, Papa und ich. Ich bin ganz sicher«, versprach sie feierlich und stand auf. »Und solange wir solche Freunde wie die Nordens haben, kann gar nichts schief gehen«, fügte sie auf tiefstem Herzen hinzu und lächelte hinüber zu Fee Norden, die sich eine Träne der Rührung aus dem Augenwinkel wischte, bevor auch sie ihre Glückwünsche überbrachte.
»Sag mal, war das vorhin eine Erdbeerroulade, die du da hereingebracht hast?« Felicitas Nordens erwartungsvoller Blick ruhte auf ihrer Schwiegertochter in spe.
»Erdbeerroulade mit Sahne und frischen Bio-Erdbeeren, handgepflückt aus unserem Schrebergarten«, erwiderte Tatjana stolz. Sie stand vor dem Tisch in ihrem Café ›Schöne Aussichten‹ und wartete auf die Bestellung. Wie immer um diese Jahreszeit standen frische Blumen auf den zusammengewürfelten Tischen. Sie spiegelten sich in der Decke aus gehämmertem Silber, in deren Mitte ein halbblinder Kronleuchter prangte. So ungewöhnlich er war, so nahtlos fügte er sich in die fantasievolle Einrichtung ein. Bunt bezogene Sofas und Tische und Stühle in allen erdenklichen Farben und Formen rundeten den Stilmix ab. Bei jedem anderen hätte die Einrichtung chaotisch gewirkt. Doch Tatjana hatte ein Händchen für das richtige Maß. Das gesamte Interieur bildete eine gemütliche Einheit, die in der ganzen Stadt nach ihresgleichen suchte.
Das stellten auch Laurenz und Melanie fest, ein befreundetes Ehepaar der Nordens, die das sagenumwobene Café ›Schöne Aussichten‹ zum ersten Mal besuchten.
»Lass mich raten: Du hast die Erdbeeren gepflückt, während sich Danny im Liegestuhl von seinem anstrengenden Alltag erholt hat«, scherzte Daniel Norden gut gelaunt. An diesem Tag hatte er frei und freute sich seines Lebens. Nur seine ehemalige Haushälterin Lenni würde gegen Abend in die Klinik zu einer Routineuntersuchung kommen. Doch bis dahin war noch viel Zeit.
»Weit gefehlt. Ich lag im Liegestuhl …«
Fee sah Tatjana verwundert an.
»Danny war noch nie ein begeisterter Gärtner. Wie hast du das denn hingekriegt?«
»Ganz einfach. Ich habe ihm gedroht, dass ich ihn auf dem Stuhl festbinde und vor seinen Augen eine ganze Erdbeerroulade allein esse. Das hat gewirkt.«
Triumph im Blick wandte sich Fee an ihren Mann.
»Meine Rede! Erpressung ist das halbe Leben. Besonders in der Kindererziehung.«
Ihre drei Begleiter lachten.
»Das werde ich mir für später merken.« Zärtlich strich Melanie über die Rundung ihres Bauches. Sie war im sechsten Monat schwanger. »Du bist schließlich Expertin in Sachen Kindererziehung.«
»Da bin ich mir gar nicht so sicher. Jedes Kind ist schließlich anders. Was bei dem einen wirkt, hilft bei dem anderen noch lange nicht.« Einen Moment lang dachte Fee an die glückliche, wenn auch anstrengende Zeit zurück, als ihre fünf Kinder noch klein gewesen waren. Manchmal fragte sie sich, wie sie das alles geschafft hatte.
Tatjana stand noch immer am Tisch. Allmählich wurde sie ungeduldig. Das Café war gut besucht, und ihre Arbeitskraft wurde gebraucht.
»Ich will ja nicht stören. Aber wenn ihr heute noch etwas essen wollt, solltet ihr bestellen.«
»Also, ich nehme einen klassischen Flammkuchen.« Laurenz klappte die Karte zu. »Der lacht mich so richtig an.« Er sah seine Frau fragend an. »Und du?«
»Ich nehme nur eine Rhabarberschorle. Schließlich bin ich schon dick genug.«
Laurenz bestellte Flammkuchen und Schorle, als Melanies Überzeugung schwankte.
»Obwohl … Flammkuchen klingt schon verlockend.«
»Geht das schon wieder los!«, offenbar hatte Laurenz bereits Bekanntschaft gemacht mit dieser Unentschlossenheit.
»Melanie kann nichts dafür. Das sind die Hormone.« Fee zwinkerte ihrer Freundin zu. »Progesteron und Östrogen werden für die Launen verantwortlich gemacht. Man sollte allerdings nicht vergessen, dass eine Schwangerschaft eine Zeit tiefgreifender Veränderungen ist. Nicht nur körperlich, sondern auch psychisch.«
»Da hörst du es!« Melanie lächelte ihren Mann an. »Ich kann gar nichts dafür, dass ich mich nicht entscheiden kann.«
»Das musst du jetzt aber. Schließlich hat Tatjana noch etwas anderes zu tun«, erinnerte Laurenz seine Frau.
»Ich kann ja schon einmal die Erdbeerrouladen und den Kaffee bringen. Bis ich zurück bin, haben Sie sich sicher entschieden.«
In Gedanken versunken kehrte Tatjana an die Theke zurück. Niemand ahnte, dass sie fürchtete, selbst schwanger zu sein. Einen Arzttermin hatte sie erst in der kommenden Woche bekommen. Bis dahin sollte niemand davon erfahren. Sie musste selbst erst mit sich ins Reine kommen.
Inzwischen setzten Laurenz und Melanie ihre Diskussion fort.
»Hast du denn Hunger?«
»Keine Ahnung.« Ratlos zuckte sie mit den Schultern. »Irgendwie schon.«
»Dann bestelle ich dir auch einen Flammkuchen.«
»Und wenn ich doch nicht hungrig bin?«
»Dann lasst ihr ihn einpacken und nehmt ihn mit nach Hause.« Dieser pragmatische Vorschlag kam von Daniel Norden.
Hilflos sah Melanie von einem zum anderen. Plötzlich schwammen ihre Augen in Tränen.
»Und wenn ich morgen keine Lust auf Flammkuchen habe?«
»Dann bestelle ich dir eben Kuchen.«
Melanie riss die Hände hoch.
»Auf