»Ja, ja, natürlich. Klar will ich das noch.« Svenja war sichtlich verwirrt. »Ehrlich gesagt dachte ich, du bist wegen Viola hier.«
Kai streckte die Arme aus und nahm Svenjas Hände in die seinen. Dabei sah er ihr fest in die Augen.
»Ehrlich gesagt bin ich wegen dir hier«, gestand er. Bevor Svenja ihrer Enttäuschung Luft machen konnte, fuhr er schnell fort. »Nicht, dass ich mich nicht für Viola und ihre Gesundheit interessiere. Ganz im Gegenteil. Und doch habe ich das Gefühl, dass zuerst wir beide dran sind. Nenne mich einen Egoisten. Aber ich habe dein ganzes Leben verpasst und will dich erst in aller Ruhe kennenlernen, bevor ich dich mit irgendjemand anderem teile. Und sei dieser andere deine Mutter.« Er machte eine kunstvolle Pause. »Kannst du das verstehen?«
Svenja nickte, ohne dass sie lange über seine Frage nachdenken musste.
»Du hast recht. Mama mischt sich ziemlich viel in mein Leben ein. Vielleicht ist es ganz gut, wenn ich dich erst einmal nur für mich habe.« Auch wenn das vielleicht nicht lange dauern wird!, fügte sie ihm Geiste hinzu. Doch das sprach sie nicht laut aus. Sie hatte ihren Vater gefunden. Ein Anfang war gemacht. Alles andere würde sich finden. Das Wichtigste war nun, dass ihre Mutter wieder gesund wurde.
*
Erschöpft von dem anstrengenden Eingriff kehrte Dr. Matthias Weigand ein paar Stunden später in die Notaufnahme zurück. Er wollte schon in sein Büro abbiegen, als er eine vertraute Stimme hörte. Er blieb stehen und lauschte. Gleichzeitig reckte er den Hals. Kein Zweifel: Sandra stand an der Tür des Schwesternzimmers und unterhielt sich mit Schwester Elena. Sie schien seine Nähe zu spüren und wandte ihm den Kopf zu. Prompt drehte sich Matthias um und flüchtete in sein Büro. In diesem Augenblick hatte er weder Nerven noch Lust auf eine weitere nervenaufreibende Debatte mit Sandra.
»Elena hatte recht. Wie konnte ich nur behaupten, dass so ein Wahnsinn spannend ist?«, fragte er sich selbst. Vorsichtshalber schloss er die Tür hinter sich. Er ging zur Kaffeemaschine und hob prüfend die Kanne. Sie stand schon mehrere Stunden auf der Warmhalteplatte. Trotzdem schenkte er eine Tasse voll ein und trank einen Schluck. »Igitt!«
»Das nenne ich mal eine richtig nette Begrüßung.« Unbemerkt hatte Sandra die Tür geöffnet. Sie lehnte im Rahmen und musterte Matthias mit undurchdringlicher Miene.
»Kein Wunder. Schließlich ist die Besucherin genauso bitter wie der Kaffee hier«, konterte er unbarmherzig.
»So schlimm?« Sandra setzte eine mitfühlende Miene auf und schlenderte ins Zimmer.
»Noch viel schlimmer.« Demonstrativ setzte sich Matthias an den Schreibtisch und beugte sich über den Stapel Akten, der dort lag. »Wenn du mich jetzt bitte entschuldigst. Ich habe zu tun.«
Doch Sandra rührte sich nicht vom Fleck. Matthias versuchte hartnäckig, sie zu ignorieren. Er schlug eine der Akten auf und überflog die erste Seite. Am Ende angekommen, konnte er sich nicht mehr an den Anfang erinnern. Seufzend klappte er die Akte wieder zu und lehnte sich zurück. Er verschränkte die Arme vor dem Körper und musterte Sandra mit undurchdringlichem Blick.
»Bringen wir es hinter uns. Was willst du?«, fragte er schroffer als beabsichtigt.
Doch Sandra wusste, dass sie sich nicht ins Bockshorn jagen lassen durfte. Nicht, wenn sie sich noch etwas von Matthias erhoffte.
»Ich fürchte, ich habe mich benommen wie eine Idiotin«, gestand sie leise. »Es tut mir leid.«
Matthias Weigand hatte mit allem gerechnet. Nur nicht mit einem Schuldeingeständnis oder gar einer Entschuldigung. Erleichtert stellte Sandra fest, dass er schon nicht mehr so grimmig dreinsah.
»Warst du bei deinem Vater?«, fragte er statt einer Antwort.
»Ja. Gestern Abend. Wir haben uns unterhalten.«
»Und? Habt ihr euch ausgesprochen?«
Sandra biss sich auf die Unterlippe.
»So würde ich es nicht nennen. Es ist viel passiert zwischen uns. Das geht nicht so einfach. Aber wer weiß, vielleicht gibt es für uns beide ja doch noch einen Weg.«
In diesem Moment konnte und wollte Matthias das Lächeln nicht länger zurückhalten.
»Das klingt zumindest nach Waffenstillstand. Wenn nicht sogar nach Friedensverhandlungen.«
»Stimmt.« Sandra sah ihm so tief in die Augen, dass ihm heiß und kalt wurde. »Und wie ist das mit uns? Trittst du mit mir auch in Friedensverhandlungen ein?«, fragte sie fast schüchtern.
Matthias wiegte den Kopf.
»Das kommt darauf an.«
»Auf was?«
»Darauf, dass du akzeptierst, dass ich eine eigene Meinung zu den Dingen habe und dir nicht nach dem Mund rede.«
»Natürlich. Wer will denn schon einen Ja-Sager?« Sie kam um den Schreibtisch herum und ging vor ihm in die Knie. »Ich weiß, dass ich ein aufbrausendes Temperament habe, und ich arbeite daran«, versprach sie innig. »Allerdings kann ich dir nicht versprechen, dass ich dieses Problem sofort und zuverlässig in den Griff bekomme.«
Am liebsten hätte Matthias sie in seine Arme geschlossen. Doch ein wenig Strafe musste sein.
»Was bekomme ich, wenn du mich wieder einmal vor allen Leuten so dumm anredest?«, fragte er lauernd.
Sandra, die spürte, dass sie gewonnen hatte, gluckste leise.
»Such dir was aus«, bot sie großzügig an in Erwartung besonderer Liebesdienste, die er sich von ihr wünschte.
»Gut. Wenn das so ist, übernimmst du jedes Mal meinen Nachtdienst.« Vergnügt rieb sich Matthias die Hände. »Ich freue mich schon auf eine ruhige Zeit.«
Schlagartig verfinsterte sich Sandras Miene.
»Du Schuft! So hatten wir nicht gewette …« Mitten im Satz hielt sie inne. Sie hatte das belustigte Funkeln in seinen Augen entdeckt. Sofort änderte sie ihre Strategie. »Darüber müssen wir uns noch unterhalten«, erklärte sie. Ehe Matthias Gelegenheit zu einer Antwort hatte, schlang sie die Arme um seinen Hals und küsste ihn, dass ihm Hören und Sehen verging.
»Einverstanden«, raunte er dicht an ihren Lippen, als das schrille Piepen an seinem Gürtel der Versöhnungsfeier ein jähes Ende bereitete. »Heute Abend bei mir?«
»Aber nur, wenn du nicht kochst«, lachte Sandra und schickte ihm einen Handkuss, ehe er mit fliegendem Kittel um die Ecke verschwand.
*
Schwester Elena hatte Svenja über den guten Ausgang der Operation informiert und brachte sie auf die Intensivstation, ehe auch sie in der Notaufnahme gebraucht wurde.
»Es ist das dritte Zimmer auf der rechten Seite«, sagte Elena noch, ehe sie sich verabschiedete.
Svenjas Schritte hallten auf dem Linoleumboden. Die Zimmertür ihrer Mutter stand offen. Dort blieb Svenja stehen und beobachtete Daniel Norden dabei, wie er die Werte der Überwachungsgeräte überprüfte und seine Beobachtungen in einem Patientenblatt eintrug.
Als er Svenjas Blick auf sich fühlte, hob er den Blick und lächelte.
»Komm nur rein. Ich habe auf dich gewartet.«
Svenja fasste sich ein Herz und trat näher. Viola trug einen Kopfverband und hatte die Augen geschlossen.
»Wie geht es Mama?« Ihre Stimme zitterte.
Daniel legte die Hand auf ihre Schulter.
»Den Umständen entsprechend gut. Ich bin