Hugo ahnte, wie viel Überwindung sie dieses Zugeständnis kostete.
»Ich freue mich darauf, dich kennenzulernen«, murmelte er noch, ehe er herzhaft gähnte. Jetzt, da das drängendste Problem besprochen war, legten sich die überstandenen Strapazen bleischwer auf seine Lider. Nun blieb ihm nichts anderes mehr zu tun, als gesund zu werden. »Danke!«, krächzte er noch, ehe ihm die Augen zufielen.
Eine Weile stand Sandra noch vor dem Bett und sah ihren Vater mit einer Mischung aus Enttäuschung und vager Hoffnung an. Als wieder einmal ein Fehlalarm über den Flur schrillte, löste sie sich von seinem Anblick und verließ das Zimmer. Höchste Zeit, nach diesem aufregenden, anstrengenden Tag heimzugehen.
*
Am nächsten Morgen wurde Kai Heerdegen von einem Rumoren geweckt. Im ersten Moment erschrak er. Doch schon beim zweiten Gedanken erinnerte er sich an den Besuch des vergangenen Tages.
»Svenja!«, murmelte er den Namen seiner Tochter. Verzückt lauschte er diesem neuen Klang. Erst als ihm Kaffeeduft in die Nase stieg, erwachte er aus seiner Versonnenheit. Er schwang sich aus dem Bett und gesellte sich nur fünf Minuten später zu Svenja.
»Gut geschlafen?«, begrüßte er sie und bewunderte den hübsch gedeckten Frühstückstisch.
»Perfekt.« Svenja bemerkte seinen Blick. »Ich hoffe, du bist nicht böse, dass ich deine Küche auf den Kopf gestellt habe. Passt das so?«
»Ich freue mich, wenn du dich wie zu Hause fühlst«, lächelte Kai und rollte auf seinen Platz. »Du bist ja eine richtige Frühaufsteherin.«
»Nur notgedrungen.« Svenja setzte sich und reichte ihm den Brotkorb. Es wurde Zeit für die Wahrheit. »Mama wird heute früh operiert.«
Kai zog eine Augenbraue hoch.
»Was fehlt ihr denn?«
»Ein Tumor im Kopf.« Das klang immer noch besser als Gehirntumor, wie Svenja beschlossen hatte. Sie nahm sich eine Scheibe Brot und bestrich sie mit Butter und Marmelade, die sie im Kühlschrank gefunden hatte. »Neurofibromatose heißt das Ding.«
»Viola ist krank?«, wiederholte Kai, als hätte er niemals mit dieser Möglichkeit gerechnet.
Svenja nickte mit vollem Mund. Sie trank einen Schluck Kaffee.
»Ich wusste schon die ganze Zeit, dass irgendwas nicht stimmt mit ihr. Aber die Diagnose war trotzdem ein ziemlicher Schock.«
»Das … das ist … «, hilflos brach Kai ab. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«
»Tut mir leid, dass ich dich so damit überfalle. Aber das gestern war alles ziemlich viel. Ich wollte dich erst einmal ein bisschen kennenlernen. Sehen, wie du tickst.« Sie schob den Rest des Brotes in den Mund. Ihr Blick eilte hinüber zur Wanduhr über der Tür. »Ich will Mama vor dem Eingriff noch einmal sehen.« Sie schickte ihrem Vater einen hoffnungsvollen Blick. »Kommst du mit?«
Kai erschrak.
»Das ist … Das kommt … Puh …« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist«, erwiderte er schließlich. »Das kommt alles ein bisschen plötzlich. Deine Mutter weiß ja noch nicht mal, dass du bei mir bist, oder?«
»Das wird sie sich schon denken.« Svenja dachte nicht daran, ihre Enttäuschung zu verbergen. Sie stellte die Tasse so hart auf den Tisch zurück, dass der Kaffee überschwappte. Aber sie kümmerte sich nicht darum. »Weißt du was? Vergiss einfach, dass ich hier war.« Sie stand auf und blickte abfällig auf Kai hinab. »Du musst dir keine Sorgen machen, dass ich dich noch einmal belästige.« Sie hasste sich selbst dafür, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. »Wenn du Glück hast, habe ich selbst nicht mehr lange zu leben. Dann musst du dir eh keine Gedanken mehr machen.«
Ärgerlich wischte sie sich übers Gesicht, drehte sich um und lief aus dem Zimmer.
Starr vor Entsetzen saß Kai am Tisch und versuchte zu verstehen, was gerade passiert war. Als die Haustür krachend ins Schloss fiel, zuckte er zusammen.
*
Schon am frühen Morgen wurde Viola von Schwester Elena abgeholt und auf den bevorstehenden Eingriff vorbereitet. Im Operationsbereich wartete Daniel Norden auf seine Jugendfreundin. Er war froh, dass sie sich am vergangenen Abend nicht im Streit getrennt hatten, und lächelte ihr aufmunternd zu, als sie auf der Liege hereingeschoben wurde.
»Wie fühlst du dich?«
Im Hintergrund herrschte geschäftige Betriebsamkeit.
Dr. Merizani und Dr. Weigand standen schon im OP und unterhielten sich noch einmal über die Befunde und diskutierten die Herangehensweise an den Feind. Zwei OP-Schwestern bereiteten alles Nötige vor. Und auch der Anästhesist Dr. Klaiber war schon vor Ort und prüfte seine Geräte für den kommenden Einsatz.
Viola heftete ihren hoffnungsvollen Blick auf Daniel.
»Ist Svenja nicht gekommen?«, fragte sie statt einer Antwort.
»Bis jetzt noch nicht.« Er schüttelte den Kopf mit der grünen Haube. »Aber wenn du nach dem Eingriff aufwachst, sitzt sie an deinem Bett. Das verspreche ich dir.«
Viola rang sich ein Lächeln ab.
»Gestern hast du behauptet, du seist Arzt und kein Märchenonkel.«
»Wollen wir wetten, dass sie da sein wird?«
Ehe Viola antworten konnte, trat Dr. Klaiber zu ihnen.
»Von mir aus können wir. Ich bin soweit.«
Daniel sah auf Viola hinab. Sie verzog das Gesicht.
»Etwas Besseres als Schlaf kann mir im Moment eh nicht passieren«, bemerkte sie.
»Das ist genau das, was ich hören wollte.« Arnold Klaiber lachte sie freundlich an, ehe er einen Schlauch in den Zugang an ihrem Handgelenk steckte. »Ich zähle jetzt bis zehn. Wenn Sie nicht bei fünf schlafen, spendiere ich Ihnen ein Stück Kuchen in unserem Klinikkiosk.«
»Die Wette gewinne ich«, versprach Viola siegessicher und erwiderte Dr. Kalibers Lächeln. Im nächsten Moment flackerten ihre Augenlider und klappten zu.
»Eins, zwei, drei … Schade«, seufzte er bedauernd. »Mit dieser interessanten Frau hätte ich gern eine wache Stunde verbracht.«
»Das Leben ist kein Wunschkonzert«, teilte Daniel Norden ihm mit. Inzwischen trug er einen Mundschutz. Die Fältchen, die sich um seine Augen kräuselten, verrieten, dass er lächelte. »Dafür bekommst du ein paar schlafende Stunden mit ihr.«
»Ein schwacher Trost.« Arnold Klaiber warf einen Blick auf die Überwachungsgeräte. »Fangen wir an! Das lenkt mich von meinem Schmerz ab.«
Auf dieses Signal hatte das gesamte Team nur gewartet. Violas Kopf wurde in einer Drei-Punkt-Klemme fixiert. Daniel ließ sich zunächst Skalpell, dann Hochdruckbohrer reichen. Eine Weile arbeiteten die Ärzte schweigend vor sich hin, nur unterbrochen von den leisen Anweisungen von Dr. Norden, der schließlich an den Neurologen übergab. Dr. Klaiber überwachte die Vitalfunktionen seiner Patientin.
»Wie sieht es aus bei euch?«, fragte er nach einer ganzen Weile.
»Nicht so gut«, gestand Amir Merizani, ohne den Blick vom Operationsfeld zu wenden. »Der Tumor ist größer, als auf den Bildern erkennbar war.«
»Das hatten wir schon im Vorfeld befürchtet.« Dr. Weigand reichte ihm das angeforderte Gerät. »Wir sollten aufhören.«
Doch davon wollten weder der Neurologe noch Daniel Norden etwas wissen.
»Noch nicht«, entschied der Chefarzt.
»Aber eine komplette Resektion kannst du vergessen«, begehrte Weigand auf.
Arnold Klaiber warf einen Blick auf seine Geräte.
»Der Kollege Weigand hat