»Ach, Adrian, gut, dass ich Sie treffe. Wissen Sie zufällig, ob Joshua und Dési gemeinsam unterwegs sind?«
Beim Anblick seines heimlichen Schwarms blieb der Chirurg sofort stehen. Überrascht stellte er fest, dass die Schmetterlinge, die bei jedem Aufeinandertreffen heftig flatterten, offenbar ausgeflogen waren.
»Felicitas«, begrüßte er sie lächelnd. »Tut mir leid. Aber Joshua ist heute mit seiner Mutter unterwegs.«
»Richtig!«, erinnerte sich Fee. »Dési hat davon erzählt. Na, dann wird sie schon irgendwann auftauchen.« Sie bedankte sich und ging ihres Wegs. Tief in Gedanken versunken bog sie um die letzte Ecke auf dem Weg zum Kiosk, als sie einen dumpfen Schlag an der Schulter fühlte. Benommen taumelte sie rückwärts.
»Tut mir leid, tut mir leid, tut mir leid!«, stammelte eine wohlbekannte Stimme.
»Dési! Was um alles in der Welt … !«
»Mum?« Erst jetzt erkannte die Arzttochter, wen sie da, blind vor Tränen, angerempelt hatte.
»Ich schätze mal, das bin ich.« Fee rieb den schmerzenden Arm. Ihr forschender Blick ruhte auf ihrer Tochter. »Was ist denn mit dir passiert?«
»Nichts.« Trotzig wischte Dési die Tränen fort. »Das hat der Mistkerl gar nicht verdient!«
Blitzschnell zählte Fee eins und eins zusammen. Sie legte den Arm um ihre Tochter und wanderte mit ihr Richtung Kiosk. Im Zuge von Renovierungsarbeiten hatte die ehemalige Klinikchefin Jenny Behnisch im Innenhof ein kleines, subtropisches Paradies geschaffen. Palmen und andere exotische Pflanzen reckten sich hinauf zum Glasdach. Ein Wasserfall stürzte über ein künstliches Gefälle aus weißem Marmor in die Tiefe. Das Rauschen wirkte beruhigend auf Patienten, Personal und Gäste, die sich an den Tischen vor dem Kiosk trafen, um einen Kaffee zu trinken oder Gebäck aus der besten Bäckerei der Stadt zu genießen. Dorthin brachte Felicitas Norden ihre Tochter in der Hoffnung, Dési möge sich beruhigen. Als sie Schoko-Sahnetorte und Milchkaffee bestellte, musste Dési lachen, wenn auch widerwillig.
»Als Ärztin solltest du eigentlich mehr Ahnung von gesundem Essen haben.«
»Das habe ich nur für dich getan«, verteidigte sich Felicitas. »Schokolade ist gut für die Nerven.«
»Das ist ein Ammenmärchen und längst widerlegt.«
»Stimmt. Trotzdem gefällt mir der Gedanke«, erwiderte Fee unbeeindruckt. »Was aber nicht widerlegt ist, ist die Tatsache, dass es glücklich macht, sich selbst etwas Gutes zu tun. Solange es nicht jeden Tag so kalorienreich ist.« Sie dankte der Bedienung, die Torte und Kaffee servierte. »Aber jetzt erzähl mal! Mit dem Mistkerl meinst du doch sicher Joshua?« Ohne ihre Tochter aus den Augen zu lassen, schob Fee eine Gabel der sahnigen Köstlichkeit in den Mund.
»Klar, wen sonst?«, schnaubte Dési unwillig. »Stell dir vor: Er geht mit seiner Mutter nach Zürich.«
»Zürich ist doch nicht aus der Welt«, wagte Fee einen vorsichtigen Einspruch.
»Toller Trost.« Dési wollte aufspringen und davonlaufen.
Im letzten Moment bekam Felicitas sie am Ärmel zu fassen.
»Tut mir leid.« Sie bat ihre Tochter auf den Stuhl zurück. »Du denkst, dass du ihm nicht wichtig bist, wenn er mit in die Schweiz geht, stimmt’s?«
»Natürlich. Was sollte ich denn sonst denken?«
Felicitas ließ einen weiteren Happen Torte auf der Zunge zergehen. Dabei dachte sie angestrengt nach.
»Sag mal, was hast du eigentlich nach deinem Abi vor?«
»Ich will ein Auslandsjahr machen.« Dési musterte ihre Mutter verständnislos. »Aber was hat das denn jetzt damit zu tun?«
»Würdest du diesen Traum für einen Mann aufgeben?«
»Niemals.« Energisch schüttelte Dési den Kopf. »Dann würde es mir vielleicht genauso gehen wie Eileen aus der Parallelklasse. Sie wollte die Elfte eigentlich in Amerika machen. Ihrem Freund zuliebe ist sie dageblieben. Nur, um ihn ein paar Wochen später mit einer anderen zu erwischen.«
Fee lächelte. Instinktiv hatte Dési genau die richtige Antwort gegeben.
»Siehst du. Und deshalb sollte jeder junge Mensch seine Entscheidungen möglichst unabhängig treffen. Oder willst du eines Tages die Verantwortung dafür übernehmen, dass Joshua dir zuliebe dageblieben ist? Dir Vorwürfe machen lassen?«
Dési zögerte.
»Nein«, gestand sie nach einer Weile leise. Endlich griff auch sie nach der Gabel und schob sich ein Stück Torte in den Mund. Im nächsten Augenblick huschte ein seliges Lächeln über ihr Gesicht. »Die schmeckt echt gut.«
»Und? Glaubst du jetzt, dass gute Laune käuflich ist?«, fragte Fee und zwinkerte ihr zu.
Dési lachte.
»Warum musst du eigentlich immer recht haben?«
»Weil ich eine alte Frau mit einem ganzen Sack voller Erfahrungen bin«, antwortete Felicitas, und im nächsten Moment tanzte das Gelächter der beiden Frauen durch die Halle, bis es vom Rauschen des Wasserfalls verschluckt wurde.
*
Elfriede Lammers’ Bitte war es zu verdanken, dass der Verwaltungsdirektor während der Arbeitszeit ein weiteres Mal seinem privaten Vergnügen nachging.
»Sie wollten mich sprechen?«, fragte er, als er an ihrem Bett stand.
»Ich wollte Sie noch einmal sehen, bevor ich ein zweites Mal operiert werde.«
Ihre Antwort machte Dieter Angst.
»Das klingt ja so, als ob wir uns nicht wiedersehen würden.« Er schüttelte den Kopf. »Haben Sie schon einmal etwas von selbsterfüllenden Prophezeiungen gehört? Sie dürfen gar nicht erst daran denken, dass Ihnen während der Operation etwas passiert.«
»Aber das tue ich ja auch nicht. Diesmal bin ich perfekt vorbereitet. Ich habe meine Seele vor Dr. Klaiber ausgebreitet. Jetzt kann nichts mehr schief gehen.« Elfriede machte eine kunstvolle Pause. »Wir werden uns trotzdem nicht wiedersehen.«
»Aber warum denn nicht?«
Die Antwort fiel ihr nicht leicht. Irgendwie tat ihr der verklemmte Verwaltungsdirektor leid.
»Wissen Sie, dieses Erlebnis mit dem Eingriff war sehr lehrreich für mich. Ich habe mir vorgenommen, in Zukunft immer ehrlich und aufrichtig mit mir und anderen zu sein.« Sie wählte ihre Worte mit Sorgfalt. »Ich will Menschen nicht mehr für meine Zwecke benutzen, wie ich es in der Vergangenheit oft getan habe. Ich will keine Männerbekanntschaften mehr schließen, nur damit ich nicht allein sein muss. Ich will mich auch nicht kaufen lassen, nicht mit Medikamenten und auch nicht mit Blumen oder Naturfilmen auf Video. Ich finde, ich bin alt genug, um gut mit mir selbst auszukommen.« Sie lächelte Dieter Fuchs traurig an. Wie zufällig legte sie die Hand auf seinen Arm. »Ich wünsche Ihnen alles Gute.«
Sie hatte kaum ausgesprochen, als er seinen Arm abrupt zurückzog.
»Wenn das so ist, dann bekomme ich von Ihnen … Moment …« Er zog einen Zettel und einen Taschenrechner aus der Sakkotasche und tippte ein paar Zahlen ein. »Einhundertdreiundzwanzig Euro und fünfundsechzig Cent von Ihnen.«
Elfriede sah ihn entgeistert an.
»Wie bitte?«
»Die Blumen von gestern, eine Stunde und vierzehn Minuten meiner Arbeitszeit, eine Thermoskanne Tee.«
»Abzüglich Ihrer Tasse.« Ein Lächeln spielte um Elfriedes Lippen. Sie freute sich so sehr darüber, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, dass sie Dieter nicht böse sein konnte. »Den Rest spendiert Herr Dr. Norden bestimmt aus dem Stiftungskonto. Bitte wenden