Kopfschüttelnd sah Felicitas ihrer jüngsten Tochter nach, ehe sie sich daran machte, die zweite Tasche auszupacken. Kurz darauf hallte Désis Stimme durch den Garten.
»Paul? Pa … aaulll? Wo bist du?«
Fee stutzte. Besorgt ging sie durch die Küche hinüber ins Esszimmer und trat von dort auf die Terrasse.
»Was ist los?«
»Paul ist weg«, stieß Dési aufgeregt hervor und lief hinüber zum Gartenhaus.
Fee sah ihr zu, wie sie die Tür aufriss und in das Durcheinander starrte.
»Was soll das heißen? Weg?«
Händeringend drehte sich Dési um. Sie war den Tränen nahe.
»Ich kann ihn nirgendwo finden.« Sie stürmte an ihrer Mutter vorbei ins Haus und hinauf in den ersten Stock. Dort durchsuchte sie jeden Winkel. Vergeblich. Paul war und blieb unauffindbar. Auch Fees Suche im Erdgeschoss blieb ohne Erfolg.
Schon fühlte auch sie Panik in sich aufsteigen. Doch sie war nicht umsonst Ärztin und an Notsituationen gewöhnt. Als ihre Tochter erneut an ihr vorbeilaufen wollte, hielt sie sie an den Schultern fest.
»In Ordnung. Beruhige dich! Lass uns in Ruhe nachdenken. Wo könnte Paul noch stecken?«
»Er hat vorhin gejammert, dass er zu seiner Omi will«, stieß Dési schluchzend hervor. »Als ich ihm sagte, dass das nicht geht, wollte er heim zur Mama.«
»Verständlich.« Fee ging in den Garten hinaus und sah sich um. Da entdeckte sie es! »Hast du das Gartentor offen gelassen?«
Désis Blicke flogen hinüber zum Tor in der Ecke.
»Nein.«
»Bist du sicher?«
»Ganz sicher!«
Felicitas musste nicht länger darüber nachdenken, was zu tun war.
»Trommel alle Freunde zusammen, die du finden kannst! Schnappt euch eure Fahrräder und macht euch auf die Suche«, wies sie ihre jüngste Tochter an. »Ich rufe inzwischen die Polizei.«
*
Wie angekündigt hatte der Kollege aus der Radiologie Dr. Daniel Norden die Bilder überspielt. Er nahm sich Zeit, sie zu befunden. Als er Klarheit über die Schwere der Verletzung hatte, machte er sich auf den Weg zu seiner Patientin.
Kurz vor Anna Wolters Zimmer klingelte sein Handy.
Daniel überlegte kurz, ob er den Anruf seiner Frau annehmen sollte. In Anbetracht der Tatsache, dass er den freien Samstag wieder einmal in der Klinik verbrachte, entschied er sich dafür.
»Feelein, es dauert wirklich nicht mehr lang …«
Sie unterbrach ihn unwirsch. Gebannt presste Daniel den Apparat ans Ohr und lauschte auf ihre Worte.
»Was sagst du da? Paul ist weg? Ja, ja, natürlich. Nein, das geht leider nicht. Das kann ich Frau Wolter unmöglich verschweigen. Aber mach dir um sie keine Sorgen. Ihr geht es den Umständen entsprechend gut. Und bitte halte mich auf dem Laufenden.« Daniel schickte einen Kuss durch den Äther und legte auf.
Sein Herz war schwer, als er Annas Krankenzimmer betrat. Mithilfe einer Spezialvorrichtung hatte sie es einigermaßen bequem im Bett und sah erwartungsvoll zur Tür hinüber.
»Geben Sie sich keine Mühe, mein lieber Nachbar«, warnte sie ihn. »Ich weiß schon, was mir fehlt.«
»Interessant!« Dr. Norden zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. »Ich wusste gar nicht, dass Sie über hellseherische Fähigkeiten verfügen.« Um Zeit zu gewinnen, trat er an ihr Bett und maß Puls und Blutdruck.
»Das tue ich auch nicht«, erwiderte Anna. »Der nette Pfleger hat mir schon verraten, dass mein Steißbein angebrochen ist. Er hat mir auch gesagt, dass ich außer Bettruhe, Medikamenten und Krankengymnastik keine Behandlung brauche. Das bedeutet, dass ich ebensogut heimgehen und auf meinen Enkel aufpassen kann.«
»Frau Wolter … «, begann Daniel zögernd.
»Ich weiß, was Sie sagen wollen«, winkte Anna ab. »Dass ich mich nicht bewegen und deshalb nicht auf den Räuber aufpassen kann. Für dieses Problem habe ich mir auch schon eine Lösung überlegt. Ich schlage mein Lager im Wohnzimmer auf und bestelle meine Freundin Petra Lekutat. Sie kann sich tagsüber um Paul kümmern, bis ich wieder halbwegs hergestellt bin.« Sie holt Luft.
Diese günstige Gelegenheit nutzte Daniel.
»Das klingt nach einem schönen Plan, Frau Wolter«, erwiderte er. »Allerdings gibt es ein Problem.«
Anna musterte ihn argwöhnisch.
»Hat dieser Jakob mich etwa angelogen? Ist es doch schlimmer, als er mir gesagt hat?«
»Nein.«
»Was ist es dann?«
Wenn möglich, wurde Daniels Herz noch schwerer.
»Im Augenblick wissen wir leider nicht, wo Ihr Enkel steckt.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Anna mit schief gelegtem Kopf. Ihr Verstand weigerte sich, den Arzt zu verstehen.
»Er war mit Dési im Garten, als meine Frau nach Hause gekommen ist. Fee brauchte Dési kurz, um die Tür zu öffnen und ihr beim Tragen zu helfen. Diese Gelegenheit hat Paul sofort genutzt. Er war wirklich nur ein paar Minuten allein draußen.«
»Oh, mein Gott!« Anna schlug die Hand vor den Mund.
»Selbstverständlich hat meine Frau sofort die Polizei angerufen. Dési ist mit ihren Freunden unterwegs, um Paul zu suchen. Im Anschluss an den Besuch bei Ihnen werde ich mich auch an der Suche beteiligen«, versprach Daniel Norden hoch und heilig. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid es mir tut.«
Zu seiner Verwunderung winkte Anna ab.
»Sie können doch nichts dafür. Paul ist ein schrecklicher Draufgänger und schwerer zu hüten als ein Sack Flöhe. Daran ist auch meine Tochter schuld. Sie lässt ihm viel zu viel durchgehen.«
»Dann sind Sie uns also nicht böse?«
»Wie könnte ich?« Energisch schüttelte Anna den Kopf. »Weit wird der kleine Satansbraten mit seinen kurzen Beinchen ja nicht gekommen sein.« Ihre Stimme sprach von Angst und Hoffnung. Sie streckte die Hand aus und legte sie auf Daniel Nordens Arm. »Bitte gehen Sie ihn suchen. Ich habe erst wieder Ruhe, wenn er wieder da ist.«
*
So einfach, wie Felicitas sich das vorgestellt hatte, war es nicht. Vergeblich wählte Dési eine Nummer nach der anderen. Doch keiner ihrer Freunde hatte Zeit. Entweder waren sie im Urlaub oder verbrachten den herrlichen Tag am See und hatten das Handy ausgeschaltet. In ihrer Not blieb ihr nur ein Ausweg. Mit klopfendem Herzen schwang sie sich auf das Fahrrad.
»Dési!« Joshuas Miene leuchtete auf, als seine Freundin so unvermutet vor der Tür stand.
»Koffer schon gepackt?«, fragte sie spitz.
»Deshalb bist du doch sicher nicht hier.«
»Stimmt auffallend. Ich brauche deine Hilfe.« Niemals hätte sie zugegeben, dass sein Anblick ihr trauriges Herz in schreckliche Aufruhr versetzte. Um sich wenigstens den Anschein von Stärke zu geben, stemmte sie die Hände in die Hüften. »Stehst du wenigstens dafür noch zur Verfügung?«
Cool aussehen, das konnte Joshua auch. Er steckte die Hände in die Hosentaschen.
»Kommt darauf an, worum es geht.«
»Erinnerst du dich an Paul?«
»Der Kleine, der bei eurer Nachbarin zu Besuch ist?« Joshua hatte ihn vor ein paar Tagen gesehen, wie er wie ein Wirbelwind mit ausgestreckten Armen durch den Garten gesaust