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»Augen zu!« Joshua stand in der Umkleidkabine, seine Mutter in der Ankleide gegenüber.
Paola schloss die Augen.
»Du aber auch!«, verlangte sie, glucksend vor Vergnügen.
»Versprochen.« Um der Versuchung zu widerstehen, legte sie die Handflächen über die Augen. »Auf drei. Eins, zwei …«
Joshua warf einen letzten Blick in den Spiegel. Er erkannte sich selbst nicht wieder. Auf drei schloss er die Augen. Mit einem Ruck zog er den Vorhang zurück.
»Und aufmachen!«
Gleichzeitig öffneten sie die Augen wieder. Einen Moment lang starrten sie sich sprachlos an, ehe sie in wieherndes Gelächter ausbrachen.
»Du bist die hübscheste Gangsterbraut, die ich je gesehen habe«, japste Paola, als sie endlich wieder Luft bekam.
»Und du der attraktivste Clyde aller Zeiten. Ein Glück, dass der echte Clyde nicht mehr unter uns weilt. Er würde dich schon aus Neid erschießen.« Joshua wischte sich die Lachtränen von den Wangen.
Paola rückte den Hut auf ihrem Kopf zurecht, strich die Anzugweste glatt und bot ihrem Sohn den Arm.
»Darf ich bitten, Mylady?«
»Es ist mir eine Ehre.« Formvollendet legte Joshua seine Hand auf ihren Arm, und sie stolzierten im Geschäft auf und ab. Er musste achtgeben, nicht über den Saum des langen, schwarzen Kleides zu stolpern. Die Verkäufer scharten sich um das ungewöhnliche Paar und schossen Fotos mit ihren Handys. Der Auftritt war spektakulär.
Am Ende des Geschäfts angelangt, umarmte Paola ihren Sohn stürmisch.
»Du bist einfach großartig«, machte sie ihrer Begeisterung lautstark Luft. »O Josh, du musst unbedingt mit mir nach Zürich kommen.«
Schlagartig verging Joshua das Lachen. Wie vom Donner gerührt stand er da und starrte seine Mutter an.
»Ist das dein Ernst?« Die tiefe Stimme wollte nicht zur damenhaften Aufmachung passen, und die Umstehenden lachten. Joshua bemerkte es ebenso wenig wie Paola.
»Natürlich ist das mein Ernst!«, versicherte sie überschwänglich. »Ich sorge dafür, dass du erstklassigen Schauspielunterricht bekommst. Ich sehe schon die Schlagzeilen vor mir.« Ihre Hände schlugen eine imaginäre Zeitung auf. »Joshua Wiesenstein tritt in die Fußstapfen seiner legendären Mutter.« Sie ließ die Hände sinken und strahlte ihn an. »Na, wie klingt das?«
Joshuas Augen begannen zu leuchten. Schon sah er sich auf den Bühnen der Welt stehen, Shakespeare, Büchner und Brecht rezitierend. Der frenetische Applaus seines Publikums klang ihm in den Ohren. Er befand sich außerhalb von Raum und Zeit, vergaß die reale Welt um sich herum, dachte weder an seinen Vater noch an seine Freunde oder die Schule.
»Das ist zu schön, um wahr zu sein«, erwiderte er aus tiefstem Herzen.
Nichts anderes hatte Paola erwartet.
Wie jeder neuen Idee, gab sie auch diesem Impuls begeistert nach. Sie schob Joshua zurück in die Umkleidekabine.
»Los, zieh dich um! Wenn du morgen früh mit mir nach Zürich fahren willst, müssen wir noch jede Menge erledigen.«
Mit einem Ruck zog sie den Vorhang zu.
Hastig tauschte er das bodenlange Kleid gegen Jeans und T-Shirt. Schon jetzt freute er sich auf Désis Gesicht, wenn er ihr von dieser tollen Chance erzählte. Wie stolz würde sie auf ihn sein!
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»Haben Sie eine Erklärung für den Vorfall?«, erkundigte sich Dr. Norden bei dem Anästhesisten Arnold Klaiber.
Der hatte sich gerade einen Kaffee aus der Maschine eingeschenkt. Er nippte an der Tasse und verzog angewidert das Gesicht.
»Warum schaffen wir teure Kreislaufmittel an, wenn sie hier kostenlos herumstehen? Dieses Gebräu hätte Frau Lammers sofort wieder zum Leben erweckt.«
Daniel lächelte pflichtschuldig. Ihm war nicht nach Scherzen zumute.
»Ich werde Ihren Vorschlag bei der nächsten Sitzung vorbringen«, erklärte er und ließ sich auf einen der freien Stühle fallen, die um den Tisch herumstanden. »Aber vorher brauchte ich eine Erklärung, was da vorhin im OP passiert ist.« Er sah Arnold Klaiber fragend an.
»Im ersten Moment habe ich an einen Herzinfarkt gedacht.«
Daniel nickte.
»Das war auch mein Gedanke. Es könnte sich aber auch um eine Lungenembolie gehandelt haben.«
»Auch eine hübsche Idee. Aber beides ist inzwischen ausgeschlossen.« Dr. Klaiber deutete auf eine Mappe auf dem Tisch. »Das EKG ist auffallend unauffällig, genauso wie Blutwerte und Blutgasanalyse.«
Daniel öffnete die Mappe und überflog die Untersuchungsergebnisse.
»Wäre ich Verschwörungstheoretiker, würde mein Verdacht auf den Kollegen Lammers fallen. War er nicht massiv gegen den Eingriff?«, fuhr Klaiber fort.
»Sie denken, er hätte seiner Mutter ein Präparat verabreicht, das in dieser Weise mit dem Narkosemittel reagiert?« Daniel schüttelte den Kopf. »Bei aller Antipathie. Aber so weit würde er nicht gehen. Das traue ich ihm dann doch nicht zu.«
Arnold Klaiber zuckte mit den Schultern und streckte sich nach einem der Kekse auf dem Teller.
»Das fast perfekte Verbrechen.« Mit einem Happen verschwand das Gebäck in seinem Mund.
So abwegig diese Theorie auch war, brachte sie Dr. Norden dennoch auf eine Idee.
»Könnte es nicht auch sein, dass Frau Lammers uns etwas verschwiegen hat?«
»Sie denken an eine Erkrankung?«
»Eher an ein Medikament, das diese Reaktion auf das Narkotikum bewirkt hat.«
»Interessante Theorie.« Dr. Klaiber wischte sich einen Kekskrümel aus dem Mundwinkel.
»Und möglicherweise haltbarer als der versuchte Mord des Kollegen Lammers.« Endlich fand Daniel Norden seinen Humor wieder. Er riss noch ein paar Witze mit dem Kollegen, ehe er aufstand. »Dann begebe ich mich mal auf Wahrheitssuche.«
Der Anästhesist sah ihn von unten herauf an.
»Bitte halten Sie mich auf dem Laufenden. Falls doch Lammers dahinter steckt, habe ich etwas gut bei Ihnen.«
»Abgemacht!« Daniel lachte, ehe er sich auf den Weg machte, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.
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Eine leichte Brise wehte und sorgte für angenehme Kühlung. Dési Norden lag auf ihrem Balkon im Halbschatten und versuchte, sich auf das Buch in ihren Händen zu konzentrieren. Vergeblich. Immer wieder schweiften ihre Gedanken zu Joshua ab. Seit seine Mutter wie aus dem Nichts aufgetaucht war, hörte sie kaum mehr etwas von ihm, von sehen ganz zu schweigen. Umso überraschter war sie, als sie durch die Streben des Balkon-Geländers bemerkte, wie ausgerechnet ihr Freund den Gartenweg hinauflief.
In hohem Bogen flog das Buch auf den Boden, und Dési sprang auf.
»Joshua, endlich!«, rief sie, ehe sie in Windeseile die Treppe hinunter stürmte, um ihm zu öffnen. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, beleidigt zu sein. Als sie ihm aber gegenüberstand, gab es kein Halten mehr. Sie flog in seine Arme und ließ sich von ihm durch die Luft wirbeln. Ihr weißblondes Haar, ein Erbe ihrer Mutter, umwehte sie.
Als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, strich sie es zu Seite. Verliebt sah sie zu Joshua auf.
»Du hast dich ganz schön rar gemacht in letzter Zeit. Das darf nicht mehr vorkommen. Sonst suche ich mir einen anderen«,