»Ich habe keinen Sohn!« Wie ein Peitschenhieb schnitt Alexandras Stimme durchs Zimmer. Sie funkelte Sophie wütend an. »Oder sehen Sie hier irgendwo einen jungen Mann?« Vergeblich versuchte sie, die Tränen zu verbergen, die plötzlich in ihren Augen schimmerten.
Daniel trat zu ihr ans Bett und reichte ihr ein Taschentuch.
»Wollen Sie darüber sprechen?«, fragte er sanft.
Sie riss ihm das Tuch aus der Hand und betupfte die Augen.
»Da gibt es nichts zu sagen«, schniefte sie trotzig. »Für Fabian bin ich schon vor Jahren gestorben. Es kümmert ihn nicht, ob ich tot oder lebendig bin.«
»Ihr Sohn weiß vielleicht gar nicht, dass Sie in der Klinik sind«, wagte Sophie einen vorsichtigen Einwurf.
Alexandra schien sie gar nicht zu hören.
»Warum interessieren Sie sich überhaupt für mein Privatleben? Sie sollen sich um meine Beschwerden kümmern, und damit basta!« Sie ließ sich nach hinten fallen und zog die Bettdecke bis hinauf an die Nasenspitze. »Bitte lassen Sie mich allein. Ich fühle mich nicht gut.«
Daniel Norden schickte Sophie Petzold einen vielsagenden Blick. Die zuckte nur mit den Schultern.
So blieb den beiden Ärzten nichts anderes übrig, als unverrichteter Dinge den Rückzug anzutreten. Doch das bedeutete noch lange nicht, dass Daniel bereit war, die Segel zu streichen. Ganz im Gegenteil hatte er es eilig, in sein Büro zu kommen. Mit großen Schritten und wehendem Kittel eilte er über den Flur. Sophie Petzold hatte Mühe, ihm zu folgen.
*
»Das war Frau Haimerl.« Frauke Lohns hielt das Mobiltelefon noch in der Hand, als sie ins Krankenzimmer ihres Sohnes zurückkehrte.
Thorsten, der den Schlaf seines Sohnes bewachte, drehte sich zu ihr um.
»Was wollte sie denn?«, erkundigte er sich leise.
»Es geht um einen Mahnbescheid, den ich nach Ablauf einer Frist verschicken sollte. Dummerweise findet sie meinen Schriftverkehr dazu nicht im Computer«, seufzte Frauke und fuhr sich über die Augen. Im Moment hatte sie wahrlich andere Sorgen.
Thorsten dachte kurz nach.
»Was hältst du davon, wenn du kurz in die Firma fährst und das Problem löst? Bei dieser Gelegenheit kannst du deiner Chefin gleich erzählen, was passiert ist, und mit ihr klären, ob du in den kommenden Tagen stundenweise frei bekommen kannst. Dann wechseln wir uns ab mit Sevis Betreuung.«
Über diesen Vorschlag musste Frauke nicht lange nachdenken.
»Gute Idee. Ich frage mich nur, ob sie Verständnis dafür hat. Ihre kleine Tochter ist erst zwei Monate alt, und sie sitzt schon wieder Vollzeit im Büro.« Fraukes Blick huschte hinüber zu Severin. Sein Gesicht war friedlich, und sein Atem ging ruhig.
»Das ist ihre ganz persönliche Entscheidung«, gab Thorsten zu bedenken. »Wir sind eben anderer Ansicht. Das muss sie akzeptieren.« Er las die Sorge in den Augen seiner Frau. »Geh nur. Ich passe auf, dass Sevi nicht aus dem Bett fällt.«
Frauke beugte sich über ihn und küsste ihn.
»Du bist ein Schatz.« Mit dem Versprechen, so schnell wie möglich wieder zurück zu sein, machte sie sich auf den Weg.
*
Eine halbe Stunde später betrat sie das Büro ihrer Chefin. Lisa Haimerl saß am Schreibtisch und telefonierte. Als sich Frauke diskret zurückziehen wollte, bedeutete sie ihr zu bleiben.
»Frau Keller, meine Tochter heißt Paulina und nicht Paula, vielleicht merken Sie sich das irgendwann einmal«, bellte sie so ungehalten in den Hörer, dass Frauke Angst bekam. Nie und nimmer würde ihre Chefin ihr Anliegen gutheißen. »Was soll das heißen, sie schläft nicht? Ist die Windel voll? Hat sie Hunger? Nein? Dann messen Sie bitte ihre Temperatur. Wer weiß, vielleicht brütet Paulina ja etwas aus. Wenn Sie Fieber haben sollte, melden Sie sich sofort. Ach ja, und räumen Sie diesmal bitte ordentlich auf. Ich habe keine Lust, nach einem anstrengenden Arbeitstag auch noch den Hausputz zu machen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte Lisa auf. »Immer Ärger mit dem Personal!«, bemerkte sie kopfschüttelnd, ehe sie sich auf Frauke Lohns konzentrierte. »Bitte setzen Sie sich. Was kann ich für Sie tun?«
Frauke setzte sich auf die äußerste Stuhlkante. Sie wagte es kaum, ihrer Chefin ins Gesicht zu sehen.
»Wir haben doch vorhin gesprochen wegen des Mahnbescheids …«
Lisa Haimerl winkte ab.
»Das hat sich erledigt. Der Kollege Fritsch hat die Datei gefunden. Es ist alles in Ordnung.« In der Annahme, das Gespräch wäre damit beendet, wandte sie sich wieder dem Computer zu. Als Frauke keine Anstalten machte zu gehen, blickte sie wieder hoch. »Ist noch etwas?«
»Es geht um unseren Sohn, Severin«, begann Frauke schüchtern. »Er hatte heute früh einen Fahrradunfall und musste in der Behnisch-Klinik an der Wirbelsäule operiert werden.«
Die Reaktion ihrer Chefin überraschte sie.
»Du liebe Zeit! Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« Lisa Haimerls Mitgefühl war echt. »Wie geht es ihm?«
Frauke entspannte sich ein wenig. »Den Umständen entsprechend ganz gut. Die Operation ist gut verlaufen. Allerdings muss er noch eine Weile in der Klinik bleiben. Deshalb wollte ich fragen, ob es in Ordnung ist, wenn ich in den kommenden Tagen stundenweise ins Krankenhaus fahre. Mein Mann und ich wechseln uns in der Betreuung ab.«
»Selbstverständlich. Sie wissen ja, dass Sie bei Krankheit ihres Kindes Sonderurlaub beantragen können.«
Erleichtert atmete Frauke Lohns auf. Ihre Sorgen erwiesen sich als unbegründet.
»Das wird nicht nötig sein. Vielen Dank für Ihr Verständnis.«
Schon konzentrierte sich Lisa Haimerl wieder auf ihren Computer. Frauke war schon an der Tür, als die Chefin doch noch eine Frage hatte.
»Ach, welche Klinik war das, sagten Sie?«
»Severin ist in der Behnisch-Klinik.«
Lisa lehnte sich zurück und sah Frauke über den Rand ihrer Brille nachdenklich an.
»Sind Sie mit der Behandlung zufrieden? Ich frage nur … Früher habe ich mir über solche Sachen keine Gedanken gemacht. Aber mit Kind ist ja alles anders.«
»Frau Dr. Norden und ihr Team sind großartig. Nur um den stellvertretenden Chef der Pädiatrie würde ich einen großen Bogen machen. Angeblich ist Herr Dr. Lammers eine Koryphäe auf dem Gebiet der Kinderchirurgie. Aber wir haben ihn nur als arroganten, überheblichen Unsympathen kennengelernt, der seine besten Zeiten offenbar schon hinter sich hat.«
Lisa Haimerl nickte verstehend.
»Solche Fälle kenne ich zu Genüge. Diese Herrschaften sonnen sich in ihrem eigenen Licht und vergessen dabei, dass die Konkurrenz nicht schläft und sie längst überholt hat.« Sie lächelte Frauke zu. »Zum Glück ist bei Severin alles gut gegangen. Richten Sie ihm gute Besserung aus.« Das erneute Klingeln des Telefons beendete das Gespräch endgültig. »Ja, Frau Keller, was gibt es denn schon wieder?«, fragte Lisa ungeduldig in den Hörer.
Frauke dagegen verließ das Büro. Sie hatte es eilig, in die Klinik zurückzukehren und Mann und Sohn die frohe Botschaft zu verkünden.
*
»Ziehen Sie sich um! Wir treffen uns in einer halben Stunde mit Fabian Endress.«
Daniel Norden legte den Telefonhörer zurück auf den Apparat. Er saß an seinem Schreibtisch, sein Blick ruhte auf der Assistenzärztin.
Die rührte sich nicht vom Fleck.
»Wissen Sie, was ich an Ihnen bewundere?«
Ohne sie aus den Augen zu lassen, lehnte sich Daniel zurück.
»Sie