»Zumindest würde es mir nicht einfallen, mich nach Feierabend um die Familienangelegenheiten einsamer Damen zu kümmern.« Sophie zeigte auf die Uhr über der Tür. »Sie wissen doch so gut wie ich, dass sich Frau Endress nur wichtig macht. Sie ist einsam und braucht Aufmerksamkeit. Deshalb ist sie in die Klinik gekommen.«
»Tatsache ist, dass Alexandra Endress aufgrund der alten Verletzungen unter chronischen Schmerzen leidet. Die vielen Medikamente haben ihre Organe angegriffen.« Daniel ging zur Garderobe, um den Kittel gegen das Sakko zu tauschen.
»Da habe ich aber schon schlimmere Fälle gesehen«, wagte Sophie Petzold einen Einspruch.
»Schmerzen und Schmerzempfinden werden von vielen subjektiven Faktoren beeinflusst.« Dr. Norden kehrte an den Schreibtisch zurück, stellte das Telefon auf seine Assistentin um und steckte das Handy ein. »Das bedeutet, dass Patienten, die unter starken Schmerzen leiden, obwohl die Ursache in den Augen anderer geringfügig ist, nicht simulieren. Sie empfinden die Schmerzen wirklich und leiden entsprechend unter ihnen.« Tadelnd schüttelte er den Kopf. »Sie wissen doch sonst immer alles besser. Muss ich Ihnen das wirklich erklären?« An der Tür drehte er sich noch einmal nach der Assistenzärztin um. »Also, was ist jetzt?«
Sophie Petzold haderte mit sich. Die Warnung in seinen Augen gab schließlich den Ausschlag.
»Schon gut. Ich komme ja schon!«
*
»Es tut mir leid, dass ich nicht in die Klinik kommen konnte«, entschuldigte sich Fabian Endress, nachdem er seinen beiden Gästen einen Platz angeboten hatte.
Neugierig sah sich Sophie Petzold in dem Künstleratelier um. Überall standen Bilder in allen erdenklichen Größen. Manche waren vollendet, auf anderen die Motive nur ansatzweise zu erkennen. Nur eines hatten die Bilder gemein: Im Gegensatz zu seinen Frühwerken waren diese Kunstwerke allesamt in gedeckten, düsteren Farben gehalten, wie Sophie heimlich feststellte.
Daniel Norden dagegen konzentrierte sich ganz auf den Sohn seiner Patientin.
»Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«
»Sie sind also wegen meiner Mutter hier.« Fabian setzte sich auf die andere Seite des kleinen Tisches in einen Sessel. Er verschränkte die farbbespritzten Finger ineinander und musterte die beiden Ärzte mit unverhohlenem Misstrauen. »Ich frage mich, was ich für Sie tun kann.«
»Ihre Mutter hat sich wegen akuter Schmerzzustände selbst in die Klinik eingeliefert.«
»Ich weiß.« Fabian verzog das Gesicht. »Die liebe Alexandra hat ja mal wieder keine Kosten und Mühen gescheut, um die ganze Welt an ihrem grausamen Schicksal teilhaben zu lassen.«
Daniel schickte Sophie einen vielsagenden Blick.
»Ich bin sehr froh darüber, dass Ihre Mutter freiwillig gekommen ist. Sie hat einen Medikamentencocktail eingenommen, der ihr sehr bald zum Verhängnis geworden wäre.«
»Sie sprechen im Konjunktiv. Deshalb gehe ich davon aus, dass Sie die Sache in den Griff bekommen haben.«
Fabian war wirklich eine harte Nuss.
»Im Augenblick schon. Spannend wird es erst, wenn wir Ihre Mutter in den nächsten Tagen entlassen.«
Fabian zog eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts. Er wartete darauf, dass Dr. Norden fortfuhr.
»Ich habe eine Schmerztherapie angeordnet, die eine strenge Einhaltung erfordert, wenn sie erfolgreich sein soll.«
Allmählich wurde Fabian Endress ungeduldig.
»Bitte kommen Sie endlich auf den Punkt«, verlangte er. »Was habe ich mit alldem zu tun?«
»Wenn Ihre Mutter entlassen wird, braucht sie Unterstützung.« Es war Sophie, die das Anliegen vorbrachte, das sie ins Atelier des Malers geführt hatte. »Ihr Mutter schafft das nicht mehr allein.«
Fabian lachte ungläubig. Er stand auf, steckte die Hände in die Hosentaschen und begann, im Atelier auf und ab zu gehen.
»Sie wollen mich auf den Arm nehmen!«, behauptete er. »Meine Mutter ist der Inbegriff der Unabhängigkeit. Sie braucht keinen anderen Menschen. Und schon gar keine Hilfe.«
»Wie lange haben Sie Alexandra schon nicht mehr gesehen?«
Über diese Frage musste Fabian nicht lange nachdenken.
»Sechseinhalb Jahre.«
»Und denken Sie nicht, dass sich ein Mensch in so einer langen Zeit verändert?«
Daniels Frage war berechtigt.
Fabian machte vor den beiden Ärzten Halt und blickte ernst auf sie hinab.
»Nicht meine Mutter. Die ändert sich nie.« Es klopfte, und eine Frau steckte den Kopf ins Atelier.
»Fabi, die Leute von der Zeitschrift ›Arte-Sana‹ sind da.«
»Ich komme gleich.« Er nickte ihr zu und wandte sich wieder an seine Gäste. »Sie haben es gehört. Ich muss mich leider verabschieden.« Er begleitete Daniel und Sophie zur Tür. »Es tut mir leid, dass Sie sich ganz umsonst die Mühe gemacht haben.«
Doch so leicht wollte sich Sophie nicht geschlagen geben. Sie wollte unbedingt ein Erfolgserlebnis verbuchen.
»Sind Sie sicher, dass die Differenzen zwischen Ihnen und Ihrer Mutter unüberbrückbar sind?«
Fabian schenkte ihr ein bedauerndes Lächeln.
»Es fällt mir nicht leicht, eine schöne Frau wie Sie zu enttäuschen. Aber ja. Ich bin mehr als sicher. Auf Wiedersehen.« Deutlicher konnte eine Ablehnung nicht ausfallen.
Daniel und Sophie blieb nichts anderes übrig, als das Atelier zu verlassen.
Fabian machte sich noch nicht einmal die Mühe, ihnen nachzusehen.
*
Als Dr. Daniel Norden eine gute Stunde später ins Büro seiner Frau kam, saß Fee noch am Schreibtisch.
»Du gehst schon nach Hause?« Sie schickte ihm einen flüchtigen Blick, ehe sie sich wieder über die Operationsberichte beugte. »Lammers arbeitet zu viel. Er verbringt fast jede freie Minute in der Klinik und einen Großteil davon im OP. Kein Wunder, dass er heute einen Eingriff wegen Übermüdung abbrechen musste«, murmelte sie versonnen vor sich hin.
»Davon habe ich auch schon gehört. Du solltest ihm Urlaub verordnen.«
»Ich habe ihn heute Nachmittag nach Hause geschickt, damit er sich gründlich ausschlafen kann«, versicherte Fee und lehnte sich zurück.
»Aber das ist es nicht allein, stimmt’s?«, sagte Daniel ihr auf den Kopf zu. Er kannte seine Frau gut genug, um zu wissen, dass noch eine andere Sorge auf ihrem Herzen lastete.
»Du kennst mich zu gut. Ich muss aufpassen, dass ich interessant bleibe für dich.« Sie lächelte ihn versonnen an. »Forschungen haben ergeben, dass zu viel Nähe und Offenheit die Partnerschaft bedrohen können.«
Daniel lachte.
»Dann besteht für uns keine Gefahr. Unsere Arbeit ist der Garant dafür, dass wir uns niemals zu nahe kommen werden.«
Sein Ton ließ sie aufhorchen.
»Alles in Ordnung bei dir?«
»Nichts, was nicht bis später warten könnte. Brauchst du noch lange?«
Fees Blick glitt über die Unterlagen auf dem Tisch.
»Fahr schon mal vor. Ich bin in einer halben Stunde da«, versprach sie und hauchte ihrem Mann einen Kuss auf die Wange. Im nächsten Moment vertiefte sie sich wieder in die Berichte.
Daniel dagegen machte sich auf den Nachhauseweg. Er konnte seiner Frau nicht böse sein. Genau wie er war Fee Ärztin mit Leib und Seele.