Knietief stand Ceto im Wasser, als ein paar Schritte vor ihr ein dunkler Schatten durch die Fluten glitt. Selbst durch die düstergraue Färbung und den aufgewirbelten Sand waren die leuchtend blauen Schuppen zu sehen.
Als hätte das Biest auf sie gewartet.
Sie folgte ihm, langsam. Nicht dass es etwas nützte, es hatte sie ohnehin schon gewittert. Aber alle Monster, die ihr begegneten, begangen denselben Fehler.
Sie zögerten. Und sobald Ceto mit dem Schwert die Wellen teilte, war es für sie zu spät.
So würde es auch heute wieder sein.
Ceto näherte sich dem Wesen mit bedächtigen Schritten, immer darauf besonnen, die Waffe nicht zu früh in das Meer zu stoßen.
Plötzlich machte das Tier einen Satz. Ceto riss die Augen auf und schlug zu – und traf nur Wasser. Es schäumte und kräuselte sich an den Rändern seiner Wunde, zischte seiner Angreiferin eine Warnung zu, die im Nichts verhallte.
Das Monster war verschwunden.
Vom Strand ertönte ein hoher Schrei. Ceto wirbelte herum und sah zum Ufer.
Mit schreckgeweiteten Augen erblickte sie eine junge Frau, die wadentief im Wasser stand. Nein. Gestanden hatte. Jetzt lief sie strauchelnd rückwärts und ruderte mit den Armen. Vor ihr im Wasser schimmerte es.
Ceto rannte in dem Moment los, als ein blau schillernder Körper aus der Brandung schoss und nach dem Bein der jungen Frau schnappte. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein Tentakel, doch dann erkannte Ceto zwei angelegte Flossen an der Spitze.
Es war der Schweif eines Hippokampen, der sich in diesem Moment aus dem Wasser erhob. Diese außergewöhnlichen Wesen, halb Pferd, halb Fisch, waren genauso anmutig wie grauenhaft und sie gehörten nicht zu jenen Monstern, die Ceto normalerweise jagte.
Heute würde sie eine Ausnahme machen.
Sie rannte auf das Wesen zu. Es hatte sein Opfer an der Wade gepackt und es umgerissen. Die junge Frau schrie und zappelte, trat mit dem freien Fuß nach dem Monster. Doch es half nichts. Das Kleid rutschte ihren Körper hinauf, als der Hippokamp sie zu sich in die Wellen zog.
Ceto hob das Schwert und hieb nach dem Schweif mit der Flosse. Das Biest war schnell und geschickt. Es ließ von der Frau ab, ehe es von der Waffe getroffen werden konnte. Die Klinge zerteilte nur das Wasser und die Gischt. Das Tier verschwand.
Still und wachsam verharrte Ceto für einige Augenblicke an Ort und Stelle, doch das Wesen kam nicht wieder.
Die junge Frau war ans Ufer gehumpelt und saß am Strand, wenige Meter von den lockenden Ausläufern der Brandung entfernt. Ihre dichten Haare waren ein strahlend türkiser Farbklecks an diesem aschfahlen Tag, sie hingen ihr wirr vom Kopf. Ein schlichtes Wollkleid klebte an ihrem Körper, betonte jede Kurve. Sie war hübsch, trotz der rot unterlaufenen Augen. Ihre Iriden waren so farblos und grau wie die Welt und das Meer an jenem Morgen. Und wie der Regen diesen Tag, trübten Tränen ihre Sicht. Doch sie sah Ceto direkt an, voller Ehrfurcht oder Furcht – dazwischen verlief nur ein schmaler Grat.
Ceto schritt aus dem Wasser und zog die Klinge durch die Wellen, die zeterten und schrien. Diese Warnung war nötig. Der Hippokamp sollte fernbleiben.
Das rechte Bein der jungen Frau blutete, wo die Schuppen des Hippokampen die Haut aufgeritzt hatten.
»Du musst es auswaschen und verbinden«, riet Ceto ihr und lief an ihr vorbei Richtung Deich. Heute würde sie kein Monster mehr töten. Solange der Hippokamp in der Nähe war, trauten die anderen sich nicht an den Strand heran.
»Danke«, flüsterte die junge Frau mit zittriger Stimme.
Ceto hielt inne. Noch nie hatte jemand diese Worte an sie gerichtet. Es rief ein eigenartiges Gefühl in ihrer Brust hervor, die sie leer geglaubt hatte. Sie drehte sich nicht um, als sie sagte: »Halte dich vom Ozean fern.«
»Das kann ich nicht«, erwiderte die Fremde. Nun wandte sich Ceto ihr doch zu. Die aquamarinfarbenen Haare wehten im Wind, während sie in die Ferne blickte. Ceto verstand ihre Sehnsucht, ihre Qual.
»Komm mit mir«, bot sie der Verletzten an.
»Ich heiße Tessa.«
»Komm mit mir, Tessa, und ich werde dir helfen.«
Schwankend kam Tessa auf die Beine und folgte Ceto. Sie humpelte ihr hinterher, während Regen und Wind ihr ins Gesicht schlugen und an ihrem Kleid zerrten. Doch sie verzog keine Miene, klagte nicht über die Schmerzen, die sie haben musste.
Oben auf dem Deich verlor Ceto die Geduld und stützte Tessa den Rest des Weges bis zu ihrem Haus. Sie setzte die junge Frau auf ihr Bett, das Schwert fand seinen Platz auf dem Tisch.
Mit den Fingern fuhr Ceto über die blutigen Fasern des Holzes und sammelte ihre Kräfte. Sie benötigte keine Verbände, keine Salben oder Tinkturen wie die Menschen. Ihr reichte zum Heilen Magie.
»Roí.« Fließen.
Blut quoll aus dem Holz an die Oberfläche und bündelte sich in großen Tropfen. Cetos Hände glitten durch das Schwarz, bis sie vollkommen benetzt waren. Sie ging zu Tessa und legte ihre Finger vorsichtig auf die Beinwunde. Die junge Frau zuckte kurz zurück, dann ließ sie es geschehen.
»Therapeía.« Heilung. Ceto murmelte die Beschwörung mehrmals, um sicherzugehen, dass sie auch Wirkung zeigte. Die Blutmagie gehorchte ihr und machte sich ans Werk, flickte das Fleisch.
Es dauerte nur einige Augenblicke, bis nichts mehr an die Verletzung erinnerte.
Als Ceto aufsah, bemerkte sie Tessas Blick. Die junge Frau musterte sie mit undurchdringlicher Miene. Das Grau ihrer Augen wirbelte umher wie ein feiner Nebel, der Geheimnisse verschluckte. Ceto fühlte sich beobachtet, wie unter einem Vergrößerungsglas. Sie wandte sich dem Waschzuber zu, um ihre Hände zu reinigen.
»Wieso tötet Ihr sie?«, fragte Tessa.
Ceto stockte. Sie hob die noch nicht reinen Hände aus dem Wasser und fuhr herum. »Wieso? Ich habe dir damit das Leben gerettet!«
»Ich meine nicht heute. Sondern alle anderen Tage. Wieso tötet Ihr die Monster?«
Ceto schüttelte den Kopf. »Das verstehst du nicht.«
»Das bedeutet, Ihr wollt es mir nicht sagen«, erwiderte Tessa leise.
Mit einem Stöhnen senkte Ceto die Hände wieder in das Wasser. »Seit wann seid ihr Menschen so neugierig?«
Tessa lachte auf. So einen angenehmen Laut hatte Ceto lange nicht mehr gehört. Nur das Meer und seine unendlichen Weiten klangen schmeichelnder.
»Ihr gebt also zu, dass Ihr kein Mensch seid?«, fragte Tessa. Sie hatte sich erhoben, ging mit bedachten Schritten in dem kleinen, kargen Raum umher und sah sich um.
»Ich habe nie behauptet, einer zu sein«, antwortete Ceto und beobachtete sie. Das war eine ungewöhnliche Frage. Oder war lediglich die Wortwahl ungewöhnlich?
Wer war diese Frau nur?
Sie schien nicht älter als zwanzig Sommer zu sein. Im Vergleich zu Ceto, die schon so lange lebte, dass sie die Jahre nicht mehr zählen konnte, war Tessa nichts weiter als eine kleine, aber feine Laune der Natur. Das türkisblaue Haar, welches das Meer in Cetos bescheidenes Heim zu holen vermochte, fiel in weichen Wellen über Schultern und Rücken. Das Rauschen der wilden See drang in Cetos Ohren. Sie schloss die Augen und verdrängte die Bilder, die sich in ihre Gedanken schoben. Es schmerzte zu sehr.
Tessa legte den Kopf schief und beobachtete Ceto, wie sie sich die Hände wusch. »Darf ich Euch morgen dabei zusehen, wie Ihr eines der Monster jagt? Vielleicht verstehe ich Euch dann.«
»Warum willst du das?«
Tessa lächelte verschmitzt. »Weil ich ein neugieriger Mensch bin.«
Ceto