Von Flusshexen und Meerjungfrauen. Jennifer Estep. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jennifer Estep
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959915564
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Gestalt genauer. Die zahlreichen Flicken auf seinem Mantel, die ausgefransten Ärmel, die kantige Nase zwischen all dem Gestrüpp in seinem Gesicht.

      »Ich sah sie sterben, doch anstatt ihr zu helfen, bin ich davongeritten. Ich war einer dieser Menschen, die bereits beim Aufbäumen der ersten Welle all ihre guten Vorsätze über Bord werfen. Deshalb verfluchte mich die Herrin des Sees und bannte meinen Geist in den Körper meines Hengstes. Nur einmal am Tag, für die Dauer einer Stunde, ist es mir erlaubt, meine Menschengestalt anzunehmen.«

      Ein kalter Schauder durchläuft mich. Genau das habe ich über Kelpies gehört! Als sagenumwobene Wasserpferde leben sie auf dem Grund von Seen und Flüssen. Dort hinunter entführen sie ihre Opfer, um sie gierig mit Haut und Haar zu verspeisen. Algen schmücken ihre Mähne und Seetang wächst auf ihrem Schweif. Manchmal, in stürmischen Nächten, kann man die Abdrücke ihrer Hufe auf der Wasseroberfläche sehen. Ganz gleich, welche Umstände dazu geführt haben, dass dieser fremde, bärtige Mann sich in ihresgleichen verwandelt hat – er ist mein Todfeind. Der Einzige, der mich aufhalten kann!

      »So wird es bei uns nicht sein. Wir haben uns einander versprochen und es gibt nichts, was uns trennen könnte. Nicht einmal der Tod. Nicht einmal du!«

      »Du nennst mich im selben Atemzug mit dem Tod?« Es schwingt Verärgerung in seiner Stimme mit und ich frage mich wieso. Wir beide wissen, was er ist – ein Dämon der Tiefe, durch und durch böse, schlimmer als jedes Sterben und jeder Untergang!

      »Du hörst die Wahrheit nicht gern?«, frage ich.

      »Die Wahrheit?« Er kommt näher, mustert mich von oben bis unten mit seinem raubtierhaften Blick. »Die Wahrheit ist: Ich bin der Einzige, der dich zu deinem Liebsten bringen kann. Du musst mir vertrauen!«

      »Vertrauen?«, entfährt es mir. »Ich soll dir vertrauen?«

      »Nur so kommst du über den See.«

      Einen Moment lang starre ich ihn bloß entgeistert an. »Eher würde ich einem Seeungeheuer vertrauen oder einem reißenden Wasserstrudel!«, sage ich dann.

      Diese Worte lösen nun doch eine erkennbare Reaktion im Gesicht des Kelpies aus. Seine buschigen Brauen verengen sich zu einem durchgehenden Strich. Er presst die Lippen aufeinander und ich habe den Eindruck, als würden seine fast schwarzen Augen noch eine Spur dunkler werden. »Dann musst du wohl genau das tun!«, spuckt er mir entgegen.

      Und ehe ich noch etwas erwidern oder gar meinen Schleier über ihn werfen kann, ist er mit einem einzigen großen Sprung wieder im Dickicht verschwunden. Ich höre, wie seine Schritte sich entfernen, dann verändern sie sich und nehmen den Rhythmus von Hufschlägen an. Was auch immer nun geschehen wird, auf keinen Fall darf ich auf den Rücken dieses Pferdes steigen – sonst bin ich verloren.

      Mit zaghaften Schritten folge ich dem Pfad weiter bis zum Ufer des Sees. Düster wie eine schlafende Bestie liegt er da, die wellenlose Oberfläche im Mondlicht glitzernd. Es gibt weder einen Steg noch ein Boot, um hinüberzukommen. Doch dort drüben am anderen Ufer tut sich bereits der Fuß des Berges auf, der mein Ziel ist. Mein erklärtes, ersehntes, errettendes Ziel. Ich werde es schaffen, auch wenn ich schwimmen muss.

      Also ziehe ich meine Schuhe aus, die durch den Schlamm des Waldweges kaum mehr weiß aussehen. Gerade will ich auch mein Kleid aufschnüren, da höre ich ein Schnauben neben mir. Ich drehe mich zur Seite und erstarre. Plötzlich, wie aus dem Nichts, ist der Kelpie wieder aufgetaucht, diesmal in seiner Pferdegestalt. Der schwarze Hengst sieht genau so aus, wie ich ihn mir vorgestellt habe: riesig, mit mächtigen Brustmuskeln, weit geblähten Nüstern und stampfenden Hufen. Sein Schweif ist so lang, dass er auf dem Boden der Uferböschung zum Liegen kommt, und die füllige Mähne wird von einer nächtlichen Brise verweht. Mir stockt der Atem vor Ehrfurcht. Gewiss gab es nie ein schöneres Geschöpf unterm Himmelszelt! Selbst die Sterne scheinen heller zu strahlen, im unbedingten Wunsch, einen Reflex auf das seidige Fell des Kelpies zu zaubern. Nie war das Schicksal grausamer als an dem Tag, als es beschloss, dieses Wesen zum Ungeheuer zu machen.

      Ich schlucke. Dann reiße ich mich zusammen und ergreife meinen Brautschleier mit beiden Händen. Langsam gehe ich auf das schwarze Pferd zu. »Du hattest recht: Du wirst mich über den See tragen. Es gibt keine andere Möglichkeit!«, sage ich, doch dabei erschrecke ich vor meinem eigenen Wagemut. Nun wird er mir gewiss seine spitzen Reißzähne zeigen! Er wird sich auf die Hinterbeine erheben und seine steinharten Hufe auf mich niederprasseln lassen!

      Doch der Hengst macht etwas ganz anderes: Er weicht zurück. Schnaubend und stampfend bringt er einige Schritte Abstand zwischen uns.

      »Was ist los? Hast du etwa Angst vor diesem dürren, schwachen Geschöpf?«

      Er schüttelt den Kopf, lässt mich aber weiterhin nicht nahe genug herankommen. Ich versuche es noch ein paarmal, dann gebe ich meine Bemühungen auf.

      »Warum bist du überhaupt hier?«, schreie ich den Kelpie an. »Wenn du mich töten willst, tu es! Aber spiele nicht mit mir!«

      Ein sachtes Blubbern entweicht seinen Nüstern. Vorsichtig macht er einen Schritt auf mich zu, knickt mit den Vorderbeinen ein und legt sich hin. Ich traue meinen Augen nicht! »Du willst, dass ich aufsteige? So wie all die anderen Mädchen, die du auf den Grund des Sees gezogen hast?«

      Ich muss zugeben, dass ich jeden Menschen verstehen kann, der dieser Versuchung erliegt. Auch in mir weckt das sagenhafte Pferd den brennenden Wunsch, auf seinen Rücken zu klettern und eins mit ihm zu werden, mit ihm über den silbernen Wasserspiegel des Sees zu galoppieren wie ein ungebändigter Sturm. Ein tiefer, alles verzehrender Zauber geht von ihm aus. Doch da ist etwas anderes in meinem Herzen, das noch ungleich schwerer wiegt: die Sehnsucht nach meinem Liebsten!

      Ob der Kelpie das ahnt? Was, wenn ich zum Schein auf sein Angebot eingehe? Dann komme ich vielleicht nahe genug an ihn heran, um ihn doch noch zu bezwingen.

      »Du hast recht«, murmele ich deshalb in verklärtem Tonfall und lasse meine Hände mit dem Schleier sinken. »Ich werde dir vertrauen.«

      Schritt für Schritt gehe ich näher. Dabei beobachten mich die tiefdunklen Pferdeaugen ganz genau. Sie sind das Einzige, was noch an den verwahrlosten Mann im Wald erinnert. Derselbe Schmerz, dasselbe abgrundtiefe Leid liegt in diesem Blick.

      Als ich bis auf wenige Schritte herangekommen bin, spüre ich, dass der Moment gekommen ist – jetzt oder nie! Blitzschnell springe ich auf das liegende Pferd zu und werfe meinen Brautschleier über seinen Kopf. Doch der Kelpie ist schneller. Mit der Geschwindigkeit eines Dämons fährt er herum, schlägt seine Zähne in den Stoff und springt auf. Wütend funkelt er mich an.

      Nein! Meine einzige Waffe im Kampf gegen die Bestie ist verloren. Jetzt bleibt mir nur noch eines: Ich muss um mein Leben schwimmen. Hastig raffe ich den Saum meines Hochzeitskleids und renne zum Wasser. Der See greift nach mir, umspielt meine nackten Füße, zieht mich in seine nassen Arme. Ich lasse mich ganz hineinsinken, greife weit aus, um möglichst viel Raum zwischen mich und den Kelpie zu bringen. Dabei weiß ich, dass ich schon jetzt verloren habe. Ich bin wie eine Motte in einem Spinnennetz, die sich mit jedem Strampeln nur noch weiter ins Verderben reißt. Dort, tief unter mir, in der fadentiefen Schwärze, verschlingt das Monster seine Opfer. Und genau dorthin schwimme ich. Verzweifelt richte ich meinen Blick zum Gipfel des Berges. So nah und doch so unendlich fern!

       Liebster, in einer anderen Welt werden wir zusammen sein!

      Ob er mich sehen kann, wie einst ein anderer junger Mann, der den Todeskampf seiner Braut beobachtete? Ich weiß nicht, ob es Tränen oder Wassertropfen sind, die bei diesem Gedanken über meine Wangen rinnen.

      Eine Welle schwappt von hinten über mich hinweg. Ich kann nicht anders, als mich umzudrehen. Da sehe ich den Kelpie nur wenige Armlängen von mir entfernt. Lediglich sein Kopf und der muskulöse Hals ragen aus den schwarzen Fluten. Ein Schleier aus reiner Angst legt sich über meine Sinne. Meine Schwimmzüge werden langsamer. Ich wappne mich für den Angriff, das letzte Aufbäumen meines zum Tode verurteilten Körpers, den Schmerz.

      Nichts davon geschieht. Stattdessen schließt der Kelpie zu mir auf. Ich spüre