Von Flusshexen und Meerjungfrauen. Jennifer Estep. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jennifer Estep
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959915564
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das Meer mich in die Flussmündung trägt, blicke ich nicht zurück.

      Ich werde eins mit den Gezeiten. Wiege mich mit dem Seegras im Sog der Strömungen, lasse meinen Geist gleich der Kieselsteine am Uferrand hin- und herwälzen. Mond um Mond vergeht. Ebbe und Flut werden zu meinem Herzschlag. Doch die Hoffnung, dass sich der Schmerz ebenso wie die Kanten der Sandkristalle abschleifen würde, bleibt unerfüllt.

      Das Meer hört nicht auf zu flüstern, nur weil ich mich in einer Höhle im Fluss verstecke. Ich kann es immer noch hören.

       Weil es in mir ist.

       Und wer rettet dich?

       Schweig, Schwester, schweig.

       Ich kann nicht. Du hast es verdient, glücklich zu sein.

       Wie kann ich das sein, wenn du fort bist? Wenn alle, die ich geliebt habe, fort sind oder in Trauer verharrt.

       Ich bin nicht fort. Du siehst mich nur nicht mehr. Du musst die Augen schließen, um wirklich sehen zu können.

      Ich schweige. Im Gegensatz zum Meer, das mich ruft. Ohne Unterlass.

       Du kannst nicht vor dem weglaufen, was dir bestimmt ist. Aber du kannst ihm entgegenschwimmen.

      Ich schreie meine Trauer hinaus, bis ich die Stimmen in meinem Kopf vertrieben habe. Auch wenn ich weiß, dass sie sich nur in meinem Herz versteckt haben und nie fortgehen werden, bin ich dankbar für einen Moment der Stille.

      Der nächste Vollmond bringt eine Sturmflut mit sich. Sie überspült die Ufer der Flussmündung, wirbelt alles durcheinander, heult und tobt, reißt alles mit sich – bis ich aufgebe.

       Komm nach Hause.

      Das Meer empfängt mich mit salziger Umarmung und ich erkenne, wie sehr ich es vermisst habe, durch die blaue Unendlichkeit zu gleiten. Den Stammsitz meiner Familie meide ich. Meine Art ist langlebig und man könnte mich wiedererkennen.

      Ich würde den Schmerz und den Vorwurf in ihren Augen nicht ertragen. Auch nach all der vergangenen Zeit nicht.

      Die Erinnerungen wispern.

       Jetzt, wo deine Mutter fort ist, wird es deine Aufgabe sein, auf deine Schwestern aufzupassen.

       Die arme Kleine – das schwache Herz und dann noch der Verlust der Mutter.

       Wie soll sie das nur überleben?

      Nach einiger Zeit finde ich, was ich gesucht habe. Die Höhle von ihr, der Verführerin, wie mein Vater die Meerhexe in dem Streit mit meiner Mutter genannt hatte, als er sie versuchte aufzuhalten.

      Und als er sie in Stein bannte, nachdem meine Mutter zu Meerschaum geworden war.

      Ich wollte nur helfen, flüstert die Statue, wenn ich nah genug an sie heranschwimme.

       Was ist wichtiger? Dass alle anderen glücklich sind, oder dass du glücklich bist?

      Glück. Glück ist nicht für mich bestimmt, denn mein Glück tanzt in den Schaumkronen der Wellen.

      Die Höhle wird meine Zuflucht. Die Tage und Nächte vergehen. Die Strömungen berichten vom Wandel der Welt, lenken mich mit dem Geplapper von den Worten ab, die das Murmeln des Meeres in meine Seele gestreichelt hat. Ohne dass ich es wollte.

       Ich werde auf dich warten.

      Eines Tages spüre ich, dass ich nicht allein bin. Eine Nixe hat den Weg zu mir gefunden. Geleitet von den alten Legenden über die Meerhexe, die Nixen in Menschen verwandeln kann.

      »Du bist umsonst gekommen«, teile ich ihr mit.

      »Bitte lass mich mein Anliegen vortragen«, fleht sie mit großen Augen.

      »Ich weiß, was du willst, und die Antwort lautet Nein. Vergiss ihn.«

      »Das kann ich nicht.«

      »Geh fort!«

      Sie geht fort. Doch sie kommt wieder. Am nächsten Tag. Und am nächsten. Ich sehe die Hoffnung in ihren Augen.

       Hatte so auch meine Mutter gefleht?

      »Nun gut. Komm morgen wieder und du erhältst etwas, das dir helfen wird.«

      So geschieht es, und wäre mein Herz noch heil, hätte es beim Anblick des Glücks in ihrem Gesicht zerbrechen können.

      »Geh«, sage ich ihr, »lege dich zur Ruhe und schlucke diese Perle.«

      Sie schwimmt glücklich fort, sie ist gerettet, doch ich verspüre weder Freude noch Friede.

      Die Perle würde sie vergessen lassen, warum sie zu mir kam.

       Aber was, wenn es das Beste war, was das Schicksal für sie bereithielt?

       Was taugt das Beste, wenn es zu Leid und Trauer führt? Du hättest eine Ewigkeit an Vaters Seite verbringen können.

       Die Ewigkeit hätte nichts daran geändert, dass ich ihn nicht lieben konnte.

       Liebe, Liebe – was nützt Liebe, wenn sie nicht von Dauer ist.

       Manchmal ist Liebe zu stark, um vergessen zu werden. Du weißt es, denn kein Zauber der Welt hat es dich vergessen lassen.

      In dieser Nacht werde ich heimgesucht von der Sehnsucht der Nixe. Die Perle erwies sich als nutzlos. Vielleicht weil mein Herz doch nie ganz von der Hoffnung lassen konnte.

       Verräterisches Ding.

      Der Vollmond lockt.

       Schwimm an die Oberfläche, Schwester.

      Also gut. Ich gebe auf. Ich bin es müde zu fliehen. Die Hoffnung niederzukämpfen, die Trauer zu ertragen.

      So viel Zeit ist vergangen, und doch fühlt es sich an, als wäre ich erst gestern zum letzten Mal an der Seite meiner Schwester durch die blaue Unendlichkeit getaucht, umspielt von silbernen Lichtstrahlen des Mondes, der mich zu sich lockt.

       Schwimm schneller, Schwester.

      Ich zögere. Sollte ich wirklich …

      Doch ich bin schon an der Oberfläche angelangt und sehe vor mir den Felsen aufragen, der all die langen Jahre und Jahrzehnte gewartet hat.

      Und ich sehe noch jemanden.

      Er sitzt auf dem Felsen, den Blick auf das Meer gerichtet. Bis er … den meinen auffängt.

       Es wird sein, als würden alle Sterne der Nacht auf einmal aufleuchten.

      »Ich habe auf dich gewartet«, flüsterst du, und ich kann es hören, auch wenn die Wellen um mich herum lärmen.

       Das Meer verstummt, die Zeit bleibt stehen.

      »Viele Leben lang. So viele Körper trugen meine Seele durch die Zeit. Nie konnte ich Frieden finden.«

      Du kniest neben mir und die Berührung deiner Hand lässt mein Herz stolpern.

      Deine Gesichtszüge sind fremd, aber deine Augen würde ich überall wiederfinden.

      »Was wird aus deinem Reich?«

      »Ich bin schon lange kein Prinz mehr«, antwortest du auf meine stumme Frage, und es scheint dich nicht zu bekümmern.