„Das hier ist eine private Angelegenheit zwischen mir und meiner Mieterin.“
„Als Vermieter haben Sie noch lange nicht das Recht, Ihrer Mieterin Gewalt anzutun.“
„Diese Mieterin hier hat mächtige Schulden bei mir. Und es ist durchaus mein Recht, mein Geld einzufordern. Mit allen Mitteln, die ich dazu als nötig erachte.“
Trotz seines ranzigen Aussehens drückte er sich sehr wortgewandt aus. Es klang beinahe, als hätte er die entsprechende Stelle des Gesetzbuches auswendig gelernt. „Und das ist die Art, wie Sie Ihre Miete einfordern? Indem Sie hilflose Frauen drangsalieren?“
„Das geht Sie nichts an!“, zischte der stämmige Mann. „Sie befinden sich hier auf privatem Grund. Wenn Sie mein Haus nicht sofort verlassen, werde ich Sie festnehmen lassen.“
„Bitte, verständigen Sie die Polizei. Es macht mir nichts aus, zu erklären, weshalb ich es für nötig gehalten habe, diese Schabracke zu betreten.“
Und „Schabracke“ war durchaus das passendste Wort hierfür. Von den Wänden blätterte überall die Farbe ab und der beißende Geruch von Urin und vergammeltem Fleisch war derart aufdringlich, dass es Quinn beinahe den Magen umdrehte.
Grimmig ließ der Vermieter von Julia ab und kam auf Quinn zu. Er wirkte kräftig! Quinn war zwar einen ganzen Kopf größer als er, doch der Mann brachte dafür einiges mehr an Gewicht auf die Waage. Zumindest ließ das sein praller Bauch erahnen.
Quinn wich jedoch nicht vor ihm zurück. „Wie viel Geld schuldet die Dame Ihnen?“
Das verschlug dem Mann die Stimme und ein gieriges Funkeln trat in seine Augen. „Einundzwanzig Dollar.“
Auch wenn Quinn noch nicht ganz vertraut war mit dem kanadischen Geld, hatte er den Eindruck, dass das eine recht hohe Summe war, vor allem für eine Putzfrau. Ohne zu zögern, nahm er ein Münzsäckchen aus seiner Jackentasche, löste das Band und holte einige der Goldmünzen hervor, die der Earl ihm mitgegeben hatte. Es schien nur richtig, Julia mit diesem Geld zu helfen. Quinn nahm eine der Münzen und gab sie dem Mann. „Das hier sollte die Schulden mehr als genug tilgen.“
Der Mann machte große Augen. „Ist das echtes Gold?“
„Ganz recht“, erwiderte Quinn, und stellte sich, während der Mann das Goldstück betrachtete, neben Julia an die offene Tür. „Nun, wenn Sie uns entschuldigen würden. Ich helfe der Dame beim Packen.“
Julia fiel die Kinnlade herunter.
„Kein Grund zur Eile“, sagte der Vermieter und steckte seine Beute in die Hosentasche. „Wenn diese Münze sich als echt erweist, kann sie noch bleiben. Wenigstens, bis die Miete für den nächsten Monat fällig wird.“
„Wie zuvorkommend von Ihnen. Dennoch glaube ich, dass Miss Holloway sich eine angebrachtere Unterkunft suchen wird. Einen Guten Abend noch.“
Mit einer Hand an Julias Ellbogen schob Quinn sie sanft in das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
„Ich … ich …“, ging Julia auf Quinn los. „Was genau bilden Sie sich eigentlich ein?“, fragte sie, während ihr Gesicht wieder etwas Farbe zurückgewann.
Quinn blieb an der Tür stehen. „Auf keinen Fall können Sie hier weiterhin wohnen. Nicht mit so einem lüsternen Mistkerl im Haus.“
Stur verschränkte Julia die Arme, ihre Nasenflügel bebten. „Sie haben kein Recht, sich in mein Leben einzumischen.“
„Miss Julia“, begann Quinn und sah ihr eindringlich in die braunen Augen. „Bitte erlauben Sie mir, dass ich mich um Ihre Sicherheit sorge und Ihnen eine angemessene Unterkunft suche.“
„Denken Sie etwa, ich möchte an solch einem Ort wohnen?“, fauchte sie ihn geradewegs an. „Das ist alles, was ich mir mit meinem kleinen Gehalt leisten kann.“
Quinn hielt inne, um sich seine nächsten Worte sorgsam zurechtzulegen. „Ich kenne hier eine alte Dame, die eine ansehnliche Pension führt. Außerdem ist sie sehr gut vernetzt in der Stadt. Gestatten Sie mir, dass ich Sie zu ihr bringe, wenigstens für eine Nacht. Ich bin mir sicher, Sie wird Ihnen helfen, eine andere Unterkunft zu finden. Eine, die Sie auch bezahlen können.“
Er wartete, während Julia offensichtlich ihre Möglichkeiten abwog. Eine Vielzahl von Gefühlen flackerte über ihr Gesicht. Quinn kam nicht umhin, Ihre Schönheit zu bemerken, die selbst die grausamste Not ihr nicht hatte nehmen können.
Ergeben ließ Julia schließlich die Schultern sinken. „Also gut. Jeder Ort sollte besser sein als das hier.“
„Machen Sie sich keine Sorgen. Falls Mrs Chamberlain doch keine andere Lösung weiß, gibt es sicher noch andere genauso schreckliche Löcher wie dieses, wo Sie ein Zimmer finden können“, scherzte Quinn und hoffte, ihr damit ein Lächeln abzugewinnen.
Julias Lippen zuckten und formten schließlich ein zurückhaltendes Schmunzeln. „Gut. Dann werde ich mal packen.“
Julia blieb mitten auf dem Gehweg stehen. In der Dunkelheit erhob sich die große Pension vor ihr und das warme Licht, das durch die Fenster leuchtete, schien sie hoffnungsvoll willkommen zu heißen. Konnte sie in diesem liebenswürdigen Heim wirklich unterkommen?
„Vielleicht ist die Vermieterin schon zu Bett gegangen“, flüsterte Julia ihrem Begleiter zu. „Ich möchte sie nicht stören.“
Aber Quinn – wie er von ihr genannt werden wollte – stieg einfach die Treppen zur Veranda hoch und klopfte laut an die Tür. Nach einigen Momenten der Stille wiederholte er sein Klopfen. „Sie wird nichts dagegen haben. Vor allem nicht, wenn sie von Ihren Umständen erfährt.“
Julia biss sich auf die Unterlippe. Wenngleich sie Quinns Einmischung bei Mr Ketchum sehr zu schätzen wusste, nagte es an ihr, dass sie nun obdachlos war. Abhängig von der Freundlichkeit einer Fremden, bei der sie vielleicht für die Nacht unterkommen konnte.
Nun öffnete sich die Tür und eine kleine, mollige Frau im Morgenmantel war zu sehen. Sie äugte durch das Glas. „Quinten, sind Sie das?“
„Ja, Madam. Es tut mir leid, Sie zu so später Stunde aufzusuchen, aber es geht um eine Art Notfall“, erklärte er und zeigte auf Julia. „Das ist Miss Julia Holloway, eine alte Bekannte aus der Heimat. Sie braucht dringend einen Schlafplatz für die Nacht.“
Sogleich errötete Julia. Wie sehr es ihr missfiel, von anderen bemitleidet zu werden. „Schön, Sie kennenzulernen, Madam. Und bitte entschuldigen Sie vielmals, dass wir Sie so spät noch stören.“
„Ach, Sie stören nicht, Liebes. Und bitte, hören Sie beide auf mit diesem ‚Madam‘. Am besten nennen Sie mich Mrs C oder Harriet. Was Ihnen lieber ist“, erklärte sie, während sie die Tür aufschwang. „Bitte, kommen Sie herein.“
Julia trat ins Haus und fand sich in einem heimeligen Eingangsbereich wieder. Quinn folgte ihr und stellte Julias Tasche in einer Ecke ab.
„Gerade habe ich meine allabendliche Tasse Tee beendet“, sagte die Frau. „Aber ich bin mir sicher, dass noch etwas in der Kanne ist, falls Sie auch eine Tasse mögen?“
„Das wäre sehr freundlich“, erwiderte Quinn, bevor Julia etwas sagen konnte.
Mrs C zeigte zu einem Zimmer rechts von ihnen. „Gut. Dann machen Sie es sich doch schon einmal gemütlich. Ich bin gleich wieder da.“
Die Handtasche fest an sich geklammert, ging Julia in die Stube und sah sich um. Ein großes Sofa mit Blumenmuster sowie gepolsterte Ohrensessel standen um einen Kamin. Oberhalb des Feuers hing ein Gemälde von einem typisch englischen Cottage im Grünen – bei dem Anblick überrollte Julia eine Welle des Heimwehs.
„Was für eine gemütliche Stube“, sagte sie und setzte sich auf das Sofa.
„Das ist es“, gab Quinn ihr mit einem Lächeln recht.