„Aber –“
„Wenn Sie mich nun entschuldigen würden, Mr Aspinall, ich habe noch viel zu tun, bevor die Schicht zu Ende ist.“
Wie schaffte es diese Putzfrau nur, ihm das Gefühl zu geben, als hätte er soeben ein Mitglied der königlichen Familie beleidigt? Mit verschränkten Armen sah Julia ihn unverwandt an, bis Quinn nichts anderes übrig blieb, als zu gehen.
„Also gut. Ich hoffe, ich kann Sie noch einmal sehen, bevor ich zurück nach England reise“, sagte er und verabschiedete sich mit einer Hand an seinem Hut. Widerwillig ging er den Korridor entlang in Richtung Ausgang.
Als Quinn die Treppen ins Erdgeschoss nahm, zermarterte er sich den Kopf darüber, wie das gerade Gehörte irgendwie Sinn ergeben konnte. Private McIntyre, der Mann, mit dem Julia nach Kanada gekommen war, hatte sich das Leben genommen. Welche Auswirkungen hatte das für Julia gehabt? War sie in den Mann verliebt gewesen? Selbst wenn sie bloß seine Pflegerin war, musste sein Tod sie fürchterlich erschreckt haben. Und aus welchem Grund war sie nun eine Putzfrau im Militärkrankenhaus?
Nichts an Julias aktueller Situation gefiel Quinn. Und er würde nicht zur Ruhe kommen, bis er wusste, was wirklich vor sich ging.
Da sie überaus deutlich gemacht hatte, dass sein Interesse nicht willkommen war, hatte er keine andere Wahl, als ihr nach Ende ihrer Schicht heimlich nach Hause zu folgen. Wenn er wüsste, wo sie wohnte, wäre er vielleicht ein wenig beruhigter! Außerdem wüsste er dann auch, wo er sie wiederfinden würde, sobald er einen Plan hatte, mit dem er sie zur Rückkehr nach England überreden konnte.
Denn so oder so musste ihm einfach etwas einfallen, das Julia überzeugte! Diese einmalige Chance auf ein eigenes Stück Land, mit dem er seine Familie versorgen konnte, wollte er nicht so einfach ziehen lassen.
Ganz gleich, was er dafür tun musste!
Kapitel 5
Bei Schichtende schmerzte Julia nicht nur der Rücken, sondern auch die Knie. Dankenswerterweise war Dr. Clayborne kurz nach Mr Aspinalls Gehen eilig zu einem ärztlichen Notfall aufgebrochen und hatte keine Gelegenheit gehabt, sie nach ihrer Beziehung zu ihm zu fragen. Mit etwas Glück vergaß er einfach alles über Quinten Aspinall.
Das hatte zumindest Julia vor.
Als sie das Krankenhaus verließ, stieß sie einen tiefen Seufzer aus. Der Weg nach Hause schien ihr plötzlich mehr zu sein, als sie ertragen konnte. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich heute viel müder als sonst. So sehr, dass ihr wirklich alle Knochen wehtaten. Doch ihr blieb nichts anderes übrig, als zu laufen, denn um diese Uhrzeit fuhren die Straßenbahnen nicht mehr.
Die Straßen kamen ihr heute besonders düster vor und sie zwang ihre Füße dazu, schneller zu gehen. Noch nie zuvor hatte sie sich auf dem Heimweg unsicher gefühlt, doch heute war ihr alles zu viel. Der Besuch von Mr Aspinall hatte sie wohl mehr aufgewühlt als gedacht.
Für einen kurzen Augenblick erlaubte sie ihren Gedanken, zurück nach Brentwood Manor zu wandern, wo sie die letzten Jahre zusammen mit ihrer Cousine Amelia gelebt hatte. Obgleich ihre Väter Brüder waren, hatten sie die zwei Mädchen auf vollkommen unterschiedliche Weise erzogen. Julias Vater war der Jüngere der beiden und daher nicht der Erbe von Brentwood Manor gewesen – stattdessen war er Priester geworden. Julia hatte deshalb ihre Kinderjahre in unterschiedlichen, sehr schlichten Pfarrhäusern verbracht.
Bis zu dem Tag, an dem ihre Eltern bei einem tragischen Kutschenunfall ums Leben gekommen waren und Julia nach Brentwood geschickt worden war!
Mit großer Fürsorge brachte Amelia Julia alles bei, was die Etikette verlangte, aber Julia empfand diese Regeln als sehr einschränkend und machte sich stets Sorgen, auf die eine oder andere Weise einen Fehler zu begehen.
Wie zum Beispiel das eine Mal, als sie den attraktiven jungen Mann in Uniform im großen Saal gesehen und zu Amelia geflüstert hatte: „Meine Güte! Der Kammerdiener deines Vaters ist aber wirklich ein Hübscher, findest du nicht auch?“
Mit weit aufgerissenen Augen sah Amelia sie an. „Um Himmels Willen, Julia, er ist ein Bediensteter! Du kannst dir einen von den vielen reichen Männern aussuchen. Aber um unsere Bediensteten brauchst du dich wirklich nicht zu kümmern. Es sei denn, sie sollen dir deine Taschen tragen.“ Das hatte Amelia so laut erwidert, dass Julia sich sicher war, er musste es auch gehört haben.
Ein Gefühl von Demütigung überkam sie und brannte in ihren Wangen. Seit jenem Moment hatte sie sich gemerkt, nie wieder ein Wort über einen Bediensteten zu verlieren.
Wie unglaublich merkwürdig – und eher besorgniserregend –, dass nach all diesen Jahren nun genau dieser Kammerdiener ihres Onkels hier in Kanada nach ihr Ausschau hielt.
Die laute Hupe eines Autos holte Julia aus ihren Gedanken zurück. Die Laternen in diesem Teil der Gegend waren nur sehr spärlich gesät und Julia wurde es mit jedem Schritt unbehaglicher zumute. Schließlich kam sie bei ihrem Gebäude an und freute sich, dass einige der anderen Mieter auf dem Bordstein saßen und rauchten – vermutlich um den beengenden, muffigen Zimmern wenigstens für eine Weile zu entkommen.
„’n Abend, Miss Holloway“, rief ein Mann ihr zu. „Heute haben Sie aber lang gearbeitet.“
„Das habe ich, ja, Mr Wood“, erwiderte sie und hielt kurz vor der Treppe inne, um dem älteren Herrn ein Lächeln zu schenken. „Wie geht es Mrs Wood? Hat sie die Erkältung inzwischen überstanden?“ Die Gattin dieses Mannes hatte beinahe den ganzen Winter lang unter einer Bronchitis gelitten und der Husten verfolgte sie auch noch jetzt in den Frühling hinein.
„Endlich geht es ihr wieder besser. Sie hat mir aufgetragen, Ihnen noch einmal herzlich für die Suppe zu danken, die Sie vorbeigebracht haben“, sagte er und zwinkerte ihr mit seinen faltigen Augen zu.
„Das habe ich doch gern getan.“ Letzte Woche hatte Julia bei der Suppenküche um eine Extraration gebeten, die sie mit den Woods geteilt hatte. „Ich muss jetzt leider gehen – auch wenn ich mich gern noch etwas mit Ihnen unterhalten hätte! Morgen erwartet mich nämlich eine Frühschicht.“
„Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht“, erwiderte Mr Blackmore. „Aber haben Sie acht vor Ketchum! Er hat wieder nach Ihnen gefragt.“
Julias Magen verkrampfte sich. Sie war diesem Mann immer noch den Rest der Miete schuldig – ganz zu schweigen von den letzten zwei Monatsmieten. „Vielen Dank für die Warnung. Ich werde mich leise an seiner Wohnung vorbeischleichen.“
In diesem Moment kam plötzlich ein Mann aus dem Schatten hervor. „Miss Holloway? Darf ich Sie kurz sprechen, bevor Sie hineingehen?“
Julia erstarrte. Sofort streckte sie den Rücken durch und eine kleine Welle der Wut überkam sie. „Sind Sie mir etwa gefolgt, Mr Aspinall? Nachdem ich Ihnen mitgeteilt habe, dass ich keine Begleitung auf dem Weg wünsche?“ Wenngleich sie nervös war, strafte sie ihn mit einem eisigen Blick.
Eilig schaute er zu Mr Wood und Mr Blackmore hinüber, die soeben aufgestanden waren. „Bitte verzeihen Sie mir. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich Sie sonst nicht wiedersehen würde.“
„Es ist schon spät, Mr Aspinall. Und ehrlich gesagt bin ich gerade nicht in der Stimmung –“
„Ich meinte auch nicht heute Abend“, unterbrach er sie und hob beschwichtigend die Hände. „Ich würde nur gern einen Termin mit Ihnen ausmachen, der Ihnen passt.“
„Belästigt Sie dieser Mann hier?“, fragte nun Mr Wood, der sich neben Julia stellte. „Denn dann können wir uns darum kümmern, dass er verschwindet.“
„Danke, Mr Wood, aber es ist alles in Ordnung“, versicherte sie ihm, obgleich ihr die innere Unruhe Knoten in den Magen machte. Wie sollte sie diesen Mann nur loswerden, ohne einen unangemessenen Aufruhr zu verursachen? Denn das Letzte, das Julia gebrauchen konnte, war ein weiterer Grund für ihren Vermieter, sie auf die Straße zu setzen. Sie seufzte. „Also gut,