„Das glaube ich zumindest, ja.“
Mr Hobday ließ den Finger über die mit Tinte beschriebenen Seite gleiten und suchte die Liste ab. Dann hielt er plötzlich inne. Sorgsam nahm er die Brille von der Nase und sah zu Quinn. „Wie es scheint, ist Cecil von seiner ersten Farm weggelaufen. Mehrmals sogar.“
Sogleich setzte Quinn sich aufrechter und sein Herz raste. Das war der erste konkrete Hinweis auf eines seiner Geschwister. „Ist auch hinterlegt, weshalb?“
„Anscheinend hat er sich nicht mit der Familie verstanden, bei der er gelebt hat“, erklärte der Direktor und hob entschieden den Kopf.
In dem Wissen, dass Mr Hobday ihm nicht mehr berichten würde, hielt Quinn die vielen weiteren Fragen zurück, die unweigerlich in ihm aufstiegen. Es musste sehr schlimm gewesen sein für Cecil, wenn er gleich mehrmals davongerannt war! „Und was ist dann mit Cecil geschehen? Ist er wieder hierhergekommen?“ In diesem Augenblick begriff Quinn, dass die Adresse, die er sich vorhin gemerkt hatte, womöglich nicht die richtige war, wenn Cecil die Farm gewechselt hatte.
Mr Hobday sah noch einmal in das Buch. „Ja, für einen Monat war er hier, bis er anschließend an eine andere Farm vermittelt wurde. Laut dem Bericht vom Kontrollbesuch einige Monate später hat Cecil sich dort besser eingelebt.“
Wenigstens eine gute Nachricht. Quinn spürte, wie die Anspannung von seinen Schultern abfiel. „Aber Sie werden mir nicht genau sagen, wo er nun lebt und arbeitet?“
„Nein, die Farm kann ich Ihnen nicht nennen.“ Eine lange Pause. Schließlich seufzte der Direktor laut. „Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, dass man ihn in den Norden geschickt hat. In einen Ort mit dem Namen Elmvale. Aber seien Sie gewarnt, Mr Aspinall, jede Art der Einmischung wird nicht geduldet. Habe ich mich klar ausgedrückt?“
Quinn richtete sich auf. „Absolut, Sir.“ Dann zeigte er mit dem Finger auf das Buch. „Gibt es noch weitere Einträge zu meinen Brüdern?“
Erneut setzte Mr Hobday die Brille auf und überprüfte die Listen. „Kein weiterer Hinweis. Zu keinem der beiden.“
„Danke. Ich weiß Ihre Zeit für mich sehr zu schätzen. Genau wie Ihre Aufrichtigkeit“, bedankte er sich und hielt inne. „Und ich werde Ihren Rat im Hinterkopf behalten“, fügte er hinzu, während er aufstand.
„Mr Aspinall.“
„Ja?“
„Ich bitte Sie, tun Sie nichts, was die Verträge Ihrer Brüder in Gefahr bringt. Ich kann es nicht oft genug betonen! Sollten Ihre Brüder die Verträge vor der Zeit brechen, bedeutet das nicht nur, dass sie das Geld verlieren, das ihnen zustehen würde, sondern auch, dass man rechtliche Schritte gegen sie einlenken müsste.“
Quinn schluckte. „Aber gewiss können sie dafür nicht ins Gefängnis kommen?“
„Doch, in manchen Fällen könnte das als die angemessene Strafe erachtet werden. Aber häufiger als das werden hohe Geldbußen verhängt.“
„Ich verstehe. Vielen Dank, Sir“, erwiderte Quinn, setzte den Hut auf und verließ das Büro. Wie es schien, waren diese Verträge von größerer Bedeutung als zunächst angenommen. Doch er war bereits zu weit gekommen, um sich von seiner Mission abbringen zu lassen – rechtliche Auswirkungen hin oder her!
Sollten seine Brüder sich dazu entscheiden, ihre Stellen aufzugeben und mit ihm nach England zurückzukehren, würden sie es auf jeden Fall riskieren.
Kapitel 4
„Ihre Brüder arbeiten in Elmvale und Caledon?“, fragte Mrs Chamberlain mit gerunzelter Stirn, als sie mit Quinn am Sonntagvormittag aus der Kirche schlenderte. „Von wem haben Sie das denn erfahren? Doch sicher nicht vom Direktor?“
„Nicht direkt zumindest“, erwiderte Quinn, der zur Seite ging, um andere Gemeindemitglieder vorbeizulassen. Er war überrascht, wie gut ihm der Gottesdienst gefallen hatte. Auf gewisse Weise erinnerte ihn die Atmosphäre innerhalb des charmanten Backsteingebäudes an seine Heimat. „Nachdem wir uns eine Weile unterhalten hatten, hat er nachgegeben.“ Dass Quinn zusätzlich einen Blick in die Daten erhascht hatte, erzählte er besser nicht. Er fürchtete, damit womöglich gegen ein Gesetz verstoßen zu haben. Das Beste war, wenn niemand davon wusste.
„Beeindruckend“, sagte Mrs Chamberlain. „Sie müssen sein Vertrauen gewonnen haben. Und soweit ich weiß, ist er auch neu. Sein Vorgänger, Mr Owen, ist nämlich in den Ruhestand gegangen. Vielleicht ist er zuvorkommender als der alte Direktor.“
„Es scheint so“, erwiderte Quinn und versuchte, den Duft der sprießenden Rosen zu genießen, um seine Ungeduld nicht zur Schau zu stellen. Er musste das Gespräch unbedingt wieder zurück auf die Städte lenken. „Ich habe gehofft, Sie wissen vielleicht, wo diese beiden Orte liegen?“
Mrs C nickte. „Caledon ist nördlich von hier, mit dem Zug brauchen Sie wahrscheinlich etwas mehr als eine Stunde. Elmvale ist allerdings fast doppelt so weit weg, denke ich.“
„Oh“, erwiderte er und in Quinns Magen bildete sich ein Knoten. Er musste also am Bahnhof nachfragen, ob es dafür zwei einzelner Reisen bedurfte. Ganz zu schweigen von der Fahrt nach Peterborough, um Becky zu finden! Wie es schien, würde Quinn wohl länger in Kanada bleiben als gedacht. Und bevor er Toronto verlassen konnte, musste er auch noch nach Julia Holloway Ausschau halten.
Während Mrs Chamberlain sich entschuldigte, um mit Pastor Burke zu sprechen, gesellten sich Jonathan und Emmaline zu ihm. Emmaline sah mit ihrer farbenfrohen Kleidung genauso reizend aus wie auf dem Schiff. Heute trug sie ein hellblaues Kostüm mit einem farblich passenden gefederten Hut.
Sie grinste und machte einen Schritt auf Quinn zu, um ihn zu umarmen. „Quinn. Es ist so schön, dich wiederzusehen. Jonathan hat mir erzählt, dass du in der Pension warst, als ich gerade unterwegs war.“
„Auch schön, dich zu sehen“, erwiderte Quinn mit einem Lächeln. „Wie läuft es mit der Suche nach deinem Vater?“
„Sehr gut“, sagte sie und hakte sich bei ihm ein. „Es hat sich herausgestellt, dass mein Vater ein sehr bekanntes Mitglied der Gesellschaft ist und sich gerade auf das Bürgermeisteramt bewirbt.“
„Also hast du ihn schon getroffen?“
„Nur einmal“, sagte sie und ihr Strahlen verfinsterte sich. „Aber das ist nicht so gut gelaufen wie gehofft.“
Jonathan schloss zu ihnen auf. „Ihr Vater war von Emmalines plötzlicher Anwesenheit hier sehr überrumpelt. Er braucht nur etwas Zeit, das Ganze zu verarbeiten. Aber sicher gewöhnt er sich bald an den Gedanken.“
„Ich hoffe, dass euer nächstes Treffen besser verläuft“, sagte Quinn und tätschelte ihr den Arm.
„Und wie steht es um deine Suche?“, fragte Emma und hielt eine Hand an den Hut, als der Wind etwas zunahm.
„Ich komme voran. Aber wie es scheint, muss ich drei verschiedene Städte besuchen. Und bevor ich Toronto verlassen kann, muss ich noch etwas anderes erledigen.“ Sie näherten sich der Straße. Quinn blieb kurz stehen und wandte sich an Jonathan. „Du hast auf dem Schiff einen Soldatenfreund erwähnt, den du hier besuchen wolltest. Hast du ihn schon kontaktiert?“
„Noch nicht, aber genau das habe ich als Nächstes vor. Warum?“
Wenngleich die meisten Kirchgänger inzwischen auseinandergetrieben waren, sprach Quinn nun etwas leiser weiter. „Ich bin auf der Suche nach einem kanadischen Soldaten, der einige Zeit in einem Lazarett in England verbracht hat, bevor er wieder nach Hause konnte. Hast du vielleicht eine Idee, wie ich ihn ausfindig machen könnte?“
Nachdenklich legte Jonathan die Stirn in Falten. „Davon hast du auf dem Schiff gar nichts erzählt.“
Quinn verlagerte das Gewicht von dem einen auf das andere Bein. „Das