Julias Worte entlockten Quinn ein leises Lachen. „Unerschütterlich. Nun, ich nehme an, es gibt schlechtere Eigenschaften, mit denen man assoziiert werden kann.“
Auch Julia kicherte nun und ihre Wangen überzog erneut ein zartes Rosa.
Einen Moment lang sah Quinn in ihre warmen braunen Augen, bis sie den Blick von ihm abwandte. Er rief sich innerlich zur Ordnung. Hatte er etwa den Verstand verloren, auf diese Weise mit Julia zu kokettieren? Er hatte kein Recht, sich so vor der Nichte von Lord Brentwood zu verhalten.
Während die Bedienung neues heißes Wasser für den Tee brachte und Julia sich noch eine Tasse einschenkte, bemühte sich Quinn, seine Gefühle in den Griff zu bekommen. Er musste einen klaren Kopf bewahren, die Kontrolle behalten. Und vor allem musste er die Konversation wieder auf sie lenken.
„Was ist mit Ihrer Familie geschehen, als Sie im Krieg waren?“, fragte Julia, bevor Quinn etwas sagen konnte.
Zögernd schob er seinen Teller von sich, der Appetit war ihm vergangen. Allein über diese Zeit nachzudenken, drehte ihm schon den Magen um. „Als ich vom Kriegsdienst zurückgekehrt bin, musste ich leider feststellen, dass ihre alte Wohnung inzwischen an jemand anderen vermietet wurde. Und meine Mutter habe ich in einem Armenhaus in London wiedergefunden.“ Kurz hielt er inne und trank einen Schluck, um die Bitterkeit von seiner Zunge herunterzuspülen.
„Wie schrecklich. Und die Kinder, waren sie auch bei ihr?“
„Nein. Wie sich herausgestellt hat, hat meine Mutter sie in ein Waisenhaus gegeben, um ihnen dieses Schicksal zu ersparen. Es sollte nur vorübergehend sein, bis sie eine Arbeit und ein angemessenes Zuhause gefunden hat, doch so weit ist es nie gekommen.“ Frustriert atmete Quinn aus. „Wenn sie mir bloß mitgeteilt hätte, wie schlecht es um sie stand, dann hätte ich irgendwie dafür gesorgt, dass sie genug Geld gehabt hätten.“
Einfühlsam legte Julia eine Hand auf seinen Arm. „Sie haben alles getan, was Sie tun konnten.“
Während Quinn ihr ernstes Gesicht betrachtete, sehnte er sich danach, ihr glauben zu können. Doch der Tee, gepaart mit dem ständigen Gefühl von Schuld, rumorte in seinem Magen.
„Und wie sind Ihre Geschwister nach Kanada gekommen?“
„Das Dr.-Barnardo-Waisenheim ist bekannt dafür, eine große Zahl Waisen nach Kanada zu schicken – angeblich, um ihnen die Chance auf ein besseres Leben zu ermöglichen, bei einer anderen Familie, wo sie als Arbeiter auf einer Farm mithelfen. Theoretisch klingt das nach einem noblen Gedanken, doch ich bin mir sicher, dass meine Mutter nichts davon gewusst hat.“
„Das ist ja fürchterlich. Kein Wunder, dass Sie so bemüht sind, Ihre Geschwister wiederzufinden.“
„Genau“, stimmte Quinn zu und versuchte, das Unbehagen, das diese Erinnerungen stets in ihm wachriefen, beiseitezuschieben. „Aber was ist mit Ihnen? Ich nehme an, dass Sie nach dem Tod von Private McIntyre plötzlich ohne Arbeit dastanden.“
Sie nickte, aber nun verhärteten sich auch Julias Gesichtszüge. „Ohne Arbeit und ohne Unterkunft“, sagte sie und stellte die Teetasse ab. „Vor dem Krieg hatte Sam das Haus seiner Eltern geerbt. Aber nach seinem Tod ging der Besitz an einen Cousin von ihm über, der nur einen kleinen Teil der Bediensteten übernahm.“ Ihre Augen zuckten. „Leider hat er mir sehr deutlich gemacht, dass er keinen Bedarf für mich hat, und mich aufgefordert, das Haus sofort zu verlassen.“
Nur mit großer Mühe gelang es Quinn, seine Wut zu verbergen. Wie gefühllos konnte ein Mann sein, um eine alleinstehende Frau ohne eine andere Unterkunft einfach auf die Straße zu setzen?
„Natürlich war ich zunächst sehr verzweifelt. Aber Dr. Clayborne war so freundlich, mir die Arbeit im Krankenhaus zu vermitteln. Allerdings nur halbtags. Deshalb sind die meisten Vermieter nicht gewillt, mir ein Zimmer anzubieten – mein Einkommen ist zu unsicher“, sagte sie und senkte den Blick. „Und so bin ich in diesem gruseligen Loch gelandet.“
Quinn gab ein mitfühlendes Seufzen von sich und legte sich sorgfältig die nächsten Worte zurecht. „Haben Sie jemals darüber nachgedacht, zurück nach England zu gehen?“
Als sie den Blick wieder hob, standen ihr die Tränen in den Augen. „Selbst wenn ich das Geld für eine Passage hätte, weiß ich, dass ich bei meinem Onkel nicht willkommen wäre.“
„Ich weiß, dass Sie im Streit auseinandergegangen sind. Und doch bin ich mir sicher, dass Ihr Onkel Ihnen aus allen Schwierigkeiten herausgeholfen hätte – ganz gleich, wie wütend er einmal auf Sie war.“
„Vielleicht. Aber selbst wenn – ich war zu stolz, um mir einzugestehen, dass er recht hatte“, sagte sie mit einem Seufzen. „Den Gedanken, als Versagerin zurückzukommen, habe ich nicht ertragen. Und ganz sicher hätte ich ihn nicht angebettelt. Also habe ich entschieden zu arbeiten, um mir eine bessere Unterkunft oder eine Rückfahrt leisten zu können.“
Da hob Quinn eine Augenbraue. „Und, wie läuft Ihr Plan?“
„Eher schlecht“, sagte sie und ihre Lippen zuckten. „Wie es scheint, bin ich nicht gut darin, mein Geld zu verwalten. Obwohl es natürlich auch schwer ist, etwas zu verwalten, das man gar nicht hat.“
Noch ein Grund mehr für sie, das Angebot des Earls anzunehmen.
Wild und aufgeregt pochte Quinns Herz. Dann lehnte er sich vor. „Julia. Ihr Onkel hat mir genug Geld mitgegeben, um für die Kosten für Ihre Rückfahrt aufzukommen. Würden Sie bitte darüber nachdenken, mit mir nach England zurückzufahren? Bis ich meine Geschwister gefunden habe, könnten Sie weiterhin bei Mrs Chamberlain wohnen. Und dann könnten wir alle gemeinsam zurückreisen.“ Nur zu gut konnte er es sich vor seinem inneren Auge vorstellen. Wie sie als kleine Reisegruppe auf dem Deck des Schiffs saßen, gemeinsam lachten und sich Geschichten erzählten. Er käme als Held nach England zurück und brächte die verlorene Tochter nach Hause zu ihrer liebenden Familie. Julia wäre in Sicherheit und Quinn bekäme seine Belohnung.
Mit der Serviette tupfte sich Julia die Lippen und legte sie wieder ab. „Ich weiß, dass Sie es nur gut meinen, Quinn, aber das muss ich aus eigener Kraft schaffen. Als Onkel Howard mich enterbt hat, hat er mich damit sehr verletzt. Und ich weiß nicht, ob ich ihm das so einfach vergeben kann“, erklärte sie und blickte zu ihm hoch. „Falls und wenn ja, liegt die Entscheidung, wann ich zurückreise, allein bei mir. Das ist eine Frage von Unabhängigkeit und Stolz. Aber das verstehen Sie sicher.“
Mit diesen Worten nahm sie Quinn schlagartig den Wind aus den Segeln und sein Traum löste sich in Luft auf. Ahnungslos blinzelte er sie an. Ihm fiel nichts mehr ein, womit er Julia hätte umstimmen können.
„Falls es mir aber gelingen sollte, genug Geld zusammenzusparen, bis Sie Kanada verlassen, fahre ich gern mit Ihnen zurück“, schob sie nach und schenkte Quinn ein strahlendes Lächeln, dass es ihm schier die Sprache verschlug.
Wärme breitete sich in seiner Brust aus und ihm wurde plötzlich klar, dass er jeden Drachen besiegen und jedes Hindernis aus dem Weg räumen würde, um Julia in Sicherheit zu wissen, bevor er Kanada verließ. Denn trotz allem konnte Quinn nicht anders, als Julia für den Mut und die Entschlossenheit zu bewundern, mit der sie versuchte, ihren Weg zu gehen. Natürlich verstand er sie, denn schon seit Jahren versuchte er genau das Gleiche.
Er nickte. „Also gut, abgemacht. Ich nehme Sie beim Wort.“
Hitze stieg in ihre Wangen, doch sie lachte. „Gut, so machen wir’s.“
Mit etwas Geld aus seiner Geldbörse zahlte Quinn für die beiden. „Darf ich Sie noch bis zur Pension begleiten?“