Sämtliche Werke von Shakespeare in einem Band: Zweisprachige Ausgabe (Deutsch-Englisch). William Shakespeare. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: William Shakespeare
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075833631
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      ALEXANDER

       Dieser Mann, mein Fräulein, hat sich die Eigentümlichkeit von allerlei Tieren zugeeignet: Er ist so kühn wie der Löwe, so täppisch wie der Bär, so langsam wie der Elefant; ein Mann, in dem die Natur so viel Launen gehäuft hat, daß seine Tüchtigkeit in Torheit untergeht, seine Torheit durch Verständigkeit gewürzt ist. Niemand besitzt eine Tugend, von der er nicht einen Anflug bekommen hätte, noch irgend jemand eine Unart, von der ihm nicht etwas anklebte; er ist melancholisch ohne Ursach und lustig wider den Strich; er hat die Gelenkigkeit zu jedem Dinge, aber jedes Ding ist an ihm so ungelenk, daß er wie ein gichtischer Briareus hundert Hände und keine zum Gebrauch hat, oder wie ein stockblinder Argus lauter Augen und keine Sehkraft.

      CRESSIDA

       Wie kann aber dieser Mann, der mich lächeln macht, den Hektor in Zorn bringen?

      ALEXANDER

       Man erzählt, er sei gestern mit Hektor in der Schlacht handgemein geworden und habe ihn niedergeschlagen, und der Verdruß darüber und die Schmach habe den Hektor seitdem nicht essen noch schlafen lassen.

       Pandarus kommt.

      CRESSIDA

       Wer kommt?

      ALEXANDER

       Fräulein, Euer Oheim Pandarus.

      CRESSIDA

       Hektor ist ein tapfrer Degen.

      ALEXANDER

       Wie nur irgendeiner in der Welt, Fräulein!

      PANDARUS

       Was sagt ihr? Was sagt ihr?

      CRESSIDA

       Guten Morgen, Oheim Pandarus!

      PANDARUS

       Guten Morgen, Muhme Cressida! Wovon sprecht ihr? Guten Morgen, Alexander! Wie gehts dir, Nichte? Wann warst du in Ilium?

      CRESSIDA

       Heute morgen, Oheim.

      PANDARUS

       Wovon spracht ihr, als ich kam? War Hektor schon gewaffnet und ins Feld gezogen, als du nach Ilium kamst? Helena war wohl noch nicht aufgestanden, nicht wahr?

      CRESSIDA

       Hektor war schon fort, aber Helena noch nicht aufgestanden.

      PANDARUS

       Ja, ja, Hektor war recht früh auf den Beinen.

      CRESSIDA

       Davon sprachen wir eben; und daß er aufgebracht sei.

      PANDARUS

       War er aufgebracht?

      CRESSIDA

       Das sagt mir dieser da.

      PANDARUS

       Freilich war er aufgebracht; ich weiß auch, warum; heut wird ers ihnen beibringen, das kann ich ihnen sagen, und Troilus wird ihm so ziemlich gleichkommen; sie mögen sich nur vor Troilus in acht nehmen; das mogen sie mir glauben!

      CRESSIDA

       Wie! Ist der auch aufgebracht?

      PANDARUS

       Was, Troilus? Troilus ist der Beßre von beiden!

      CRESSIDA

       O Jupiter! Da ist gar kein Vergleich!

      PANDARUS

       Wie, nicht zwischen Troilus und Hektor? Erkennst du nicht einen Mann, wenn du ihn siehst?

      CRESSIDA

       Nun ja, wenn ich ihn sonst schon sah und kannte.

      PANDARUS

       Ganz recht; ich spreche, Troilus ist Troilus.

      CRESSIDA

       Da sprecht Ihr wie ich, denn ich weiß gewiß, er ist nicht Hektor.

      PANDARUS

       Nein, und Hektor ist auch nicht Troilus in gewissem Betracht.

      CRESSIDA

       So tun wir keinem Unrecht; er ist er selbst.

      PANDARUS

       Er selbst? Ach, du armer Troilus! Ich wollte, wäre –

      CRESSIDA

       Er ist es ja.

      PANDARUS

       Mit dem Beding ginge ich barfuß nach Indien!

      CRESSIDA

       Hektor ist er nicht!

      PANDARUS

       Er selbst? Nein, er ist nicht er selbst – ja, ich wollte, er wäre er selbst. Nun, die Götter leben noch; die Zeit schaffts ihm oder entraffts ihm; ja, Troilus, ich wollte, sie hatte mein Herz im Leibe! Nein, Hektor ist kein beßrer Mann als Troilus.

      CRESSIDA

       Verzeiht!

      PANDARUS

       Er ist älter.

      CRESSIDA

       Ich bitte um Entschuldigung!

      PANDARUS

       Der andre ist noch nicht so alt; ihr sollt ganz anders sprechen, wenn der andre erst so alt sein wird. Hektor kann lange warten, ehe er seinen Verstand bekommt!

      CRESSIDA

       Den braucht er auch nicht, wenn er seinen eignen hat.

      PANDARUS

       Noch seine Eigenschaften.

      CRESSIDA

       Tut nichts!

      PANDARUS

       Noch seine Schönheit!

      CRESSIDA

       Sie würde ihn nicht kleiden, seine eigne ist besser.

      PANDARUS

       Du hast kein Urteil, Nichte! Helena selbst beteuerte neulich, daß Troilus, wenn von brauner Farbe die Rede sei – denn braun ist er allerdings – und doch nicht so recht eigentlich braun –

      CRESSIDA

       Nein, sondern braun.

      PANDARUS

       Die Wahrheit zu sagen, braun und nicht braun.

      CRESSIDA

       Die Wahrheit zu sagen, wahr und nicht wahr.

      PANDARUS

       Sie stellte seinen Teint über den des Paris.

      CRESSIDA

       Nun, Paris hat Farbe genug.

      PANDARUS

       Das hat er auch.

      CRESSIDA

       So hatte Troilus denn zu viel Farbe; wenn sie seinen Teint über den des andern stellt, ist er höher an Farbe; wenn nun Paris rot genug ist und Troilus hochrot, so ist das ein zu teuriges Lob für einen guten Teint. Ebensogern hätte Helenas goldne Zunge den Troilus wegen einer Kupfernase rühmen können.

      PANDARUS

       Ich schwöre dir, ich glaube, Helena liebt ihn mehr als den Paris.

      CRESSIDA

       Dann ist sie wirklich eine leichtsinnige Griechin.

      PANDARUS

       Nein, ganz gewiß, das tut sie. Neulich stellte sie sich zu ihm in das Bogenfenster, und du weißt, er hat nur drei oder vier Haare am Kinn –

      CRESSIDA

       O gewiß, eines Bierzapfers Rechenkunst würde hinreichen, diese Einheiten in eine Summe zu ziehn.

      PANDARUS

       Nun, er ist noch sehr jung, und doch sind seine Nerven so stählern, daß er dir bis auf zwei, drei Pfund ebensoviel aufheben wird als sein Bruder