Es wäre falsch anzunehmen, daß der Verfall der parlamentarischen Gesetzgebungsmacht lediglich ein Resultat der letzten, der präfaschistischen Periode der Deutschen Republik, also etwa der Zeit von 1930 bis 1933, gewesen sei. Der Reichstag war nie sehr darauf bedacht, das alleinige Gesetzgebungsrecht zu bewahren; schon von den ersten Tagen der Republik an entwickelten sich nebeneinander drei konkurrierende Arten der Gesetzgebung. Bereits 1919 gab der Reichstag freiwillig seine höchste Gewalt im Bereich der Gesetzgebung auf, indem er ein Ermächtigungsgesetz verabschiedete, das dem Kabinett, d. h. der Ministerialbürokratie, weitreichende Machtbefugnisse übertrug. Ähnliche Bestimmungen wurden 1920, 1921, 1923 und 1926 eingeführt.
Das Ermächtigungsgesetz vom 13. Oktober 1923, um nur ein Beispiel zu nennen, autorisierte die Reichsregierung, »die Maßnahmen zu treffen, welche sie auf finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Gebieten für erforderlich und dringend erachtet«, und mit dieser Vollmacht wurden folgende Maßnahmen verkündet: eine Verordnung über die Stillegung von Fabriken, die Gründung der Deutschen Rentenbank, über Währungsregelungen und die Änderungen des Einkommenssteuergesetzes, schließlich eine Verordnung, die eine Kontrolle von Kartellen und Monopolen einführte. In den fünf Jahren von 1920 bis 1924 ergingen 450 Regierungsverordnungen gegenüber 700 parlamentarischen Gesetzen. Die gesetzgebende Gewalt des Kabinetts nahm also faktisch gleichzeitig mit der Geburt des deutschen parlamentarischen Systems ihren Anfang.
Das zweite Kennzeichen parlamentarischen Niedergangs ist im Charakter des Gesetzes selbst zu finden. Die Komplexität des Gesetzgebungsverfahrens brachte den Reichstag dazu, lediglich unbestimmte allgemeine Grundsätze festzulegen und dem Kabinett die Verfügungsmacht über die Anwendung und den Vollzug zu überlassen.
Der dritte und letzte Schritt war das auf Artikel 48 der Verfassung beruhende präsidiale Notverordnungsrecht. Zwar besaß der Reichstag das verfassungsmäßige Recht, solche Notstandsgesetze zu widerrufen, doch war dies nur ein geringer Trost, da dieses Recht eher ein scheinbares als ein reales war. Sind die Maßnahmen erst einmal in Kraft getreten, dann haben sie tiefgreifende Auswirkungen auf das soziale und wirtschaftliche Leben, und obschon es dem Parlament als leicht vorgekommen sein mag, eine Notverordnung aufzuheben (z. B. die Senkung der Kartellpreise und Löhne), konnte es doch eine Ersatzregelung nicht so leicht verabschieden. Diese Erwägung spielte eine gewisse Rolle bei der Haltung des Reichstages gegenüber den Brüning-Verordnungen von 1930, die tiefe Veränderungen für die Wirtschafts- und Sozialstruktur der deutschen Nation brachten. Ein bloßer Widerruf hätte den Fluß des nationalen Lebens unterbrochen. Eine Ersatzregelung konnte aber aufgrund der Gegensätze zwischen den verschiedenen im Parlament vertretenen Gruppen nicht Zustandekommen. Tatsächlich waren die Parteien, so sehr sie die Delegierung der Gesetzgebungsgewalt an den Präsidenten und die Bürokratie auch verurteilen mochten, oft recht froh, der Verantwortung enthoben zu sein.
Der Angelpunkt jedes parlamentarischen Regierungssystems ist das Budgetkontrollrecht der Legislative, und eben dies brach in der Weimarer Republik zusammen. Die Verfassung hatte den Reichstag insofern etwas eingeschränkt, als sie ihm verbot, Ausgabenerhöhungen zu beschließen, nachdem das Kabinett seinen Haushaltsplan vorgelegt hatte – es sei denn, der Reichsrat stimmte ihnen zu. Abgesehen von dieser Einschränkung waren jedoch sichtlich alle notwendigen Garantien des parlamentarischen Budgetrechts in der »Reichshaushaltsordnung« vom 31. Dezember 1922 und in den Artikeln 85, 86 und 87 der Verfassung verankert worden. Dennoch blieben genügend Gesetzeslücken, die der Bürokratie ständige Übergriffe ermöglichten. Die Buch- und Rechnungsprüfung wurde dem Reichstag ganz entzogen und dem »Rechnungshof für das Deutsche Reich« übertragen, einem Verwaltungsgremium, das von Regierung und Parlament unabhängig war und dem kein Parlamentsmitglied angehören durfte. Schließlich war die Position des Finanzministers gegenüber seinen Kabinettskollegen so stark, daß er gegen jede kleinere Ausgabe allein und gegen andere Ausgaben zusammen mit dem Kanzler – selbst gegen die Mehrheitsentscheidung des ganzen Kabinetts – Einspruch erheben konnte. Zuletzt erließ der Reichspräsident das Budget gegen das Wort der Verfassungsrichter auf dem Notverordnungswege.
Wieder sehen wir in Deutschland lediglich die spezifische Ausprägung einer allgemeinen Tendenz. Wie das englische Beispiel zeigt, besteht im Interventionsstaat immer die Neigung zum Verfall der Budgetrechte des Parlaments. Die fixen Ausgabenposten steigen zu Lasten des parlamentarisch noch zu bewilligenden zusätzlichen Etats. Wo es einen riesigen bürokratischen Apparat als Dauereinrichtung und eine zunehmende staatliche Aktivität in vielen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft gibt, werden die Ausgaben zu feststehenden und permanenten, die faktisch nicht mehr in die Rechtszuständigkeit des Parlaments fallen. In Deutschland wurden zudem nur die Einnahmen und Ausgaben des Reiches selbst im Etat aufgeführt. Die Finanzoperationen der unabhängigen reichseigenen Wirtschaftsunternehmen, ob öffentlich- oder privatrechtlich organisiert, lagen außerhalb der Budgetkontrolle. Post und Eisenbahn, Bergbauunternehmen und Fabriken, die Eigentum des Reiches waren, waren vom Budget unabhängig. Lediglich ihre Bilanzen wurden entweder als Einnahmen des Reiches oder als Subventionsforderungen an das Reich aufgeführt.
Diese ganze Entwicklung stand in völligem Einklang mit den Wünschen der deutschen Industrie. Ihre wichtigste Interessenorganisation, der Reichsverband der Deutschen Industrie, forderte sogar noch weitergehende Beschränkungen der Budgetrechte des Reichstags. Die Deutsche Volkspartei nahm seine Vorschläge in ihr Parteiprogramm auf. Sie bestand darauf, daß sämtliche Ausgaben von der Regierung gebilligt werden müßten, und daß dem Rechnungshof als Aufsichtsbehörde eine entscheidende Position bei der Annahme oder Ablehnung des Haushalts eingeräumt werden müsse. Dr. Popitz, der führende Experte für Staatsfinanzen im Reichsfinanzministerium, sprach den Grund für diesen Versuch, das Budgetrecht des Reichstages zu sabotieren, offen aus. Das allgemeine Wahlrecht, so sagte er, habe Gesellschaftsschichten in den Reichstag gebracht, die keine hohen Einkommensteuern und Sonderabgaben zahlten.40
Der Abbau der parlamentarischen Oberhoheit kam dem Reichspräsidenten und daher der Ministerialbürokratie zugute. In Anlehnung an das amerikanische Vorbild sah die Weimarer Verfassung die Volkswahl des Präsidenten vor. Aber hier endet auch schon die Ähnlichkeit der beiden Verfassungssysteme. In den USA ist der Präsident die unabhängige Spitze der Exekutive des Regierungssystems, während die Anordnungen des deutschen Reichspräsidenten vom zuständigen Minister oder vom Kanzler, der die politische Verantwortung für die Handlungen und Erklärungen des Präsidenten übernahm, gegengezeichnet werden mußten.
Dennoch hatte der deutsche Präsident relativ viel Freiheit. Zunächst verschaffte ihm die Volkswahl eine gewisse unabhängige Position gegenüber den verschiedenen Parteien. Er konnte den Kanzler und die Minister seiner Wahl ernennen; er war an keinerlei Verfassungsbrauch der englischen Tradition, den Führer der siegreichen Partei mit der Regierungsbildung zu beauftragen, gebunden. Die Präsidenten Ebert und von Hindenburg bestanden beide darauf, ihre Wahl frei und unabhängig zu treffen. Das Recht, den Reichstag aufzulösen, gab dem deutschen Präsidenten weitere politische Macht. Die Bestimmung, daß er dies nur einmal aus dem gleichen Grunde tun könne, war leicht zu umgehen.
Gleichwohl konnte der Reichspräsident nicht als »Hüter der Verfassung« bezeichnet werden, wie ihn die antidemokratischen Theoretiker hinzustellen pflegten. Er repräsentierte die Demokratie durchaus nicht und war weit davon entfernt, ein neutrales Staatsoberhaupt zu sein, das über Parteienhader und Sonderinteressen stehe. Während der