Das Bündnis als die grundlegende Bedingung des Pluralismus muß im wörtlichen Sinne verstanden werden. Die Weimarer Demokratie verdankte ihre Existenz einer ganzen Reihe von Verträgen zwischen Gruppen, von denen jeder wichtige Entscheidungen über die Struktur und Politik des Staates festlegte:
1. Am 10. November 1918 gingen Feldmarschall von Hindenburg, der die Oberaufsicht bei der Demobilmachung des Heeres hatte, und Fritz Ebert, der damalige Führer der Sozialdemokratischen Partei und spätere erste Präsident der Republik, ein Bündnis ein, dessen allgemeiner Inhalt erst einige Jahre danach enthüllt wurde. Ebert soll im Anschluß daran gesagt haben: »Wir haben uns verbündet zum Kampfe gegen den Bolschewismus. An eine Wiedereinführung der Monarchie war nicht zu denken. Unser Ziel am 10. November war die Einführung einer geordneten Regierungsgewalt, die Stützung dieser Gewalt durch Truppenmacht und die Nationalversammlung so bald wie möglich. Ich habe dem Feldmarschall zuerst den Rat gegeben, nicht mit der Waffe die Revolution zu bekämpfen … Ich habe ihm vorgeschlagen, die OHL möge sich mit der MSP verbünden, da es zur Zeit keine Partei gebe ..., um eine Regierungsgewalt mit der OHL wieder herzustellen. Die Rechtsparteien waren vollkommen verschwunden.«20 Obwohl diese Absprache ohne das Wissen von Eberts Partei oder selbst seiner engsten Mitarbeiter zustandekam, stand sie im vollen Einklang mit der Politik der SPD. Sie enthielt zwei Punkte: einen negativen, den Kampf gegen den Bolschewismus, und einen positiven, die frühzeitige Einberufung einer Nationalversammlung.
2. In der Hindenburg-Ebert-Vereinbarung wurde nichts über die Sozialstruktur der neuen Demokratie ausgesagt. Das war der Inhalt des Stinnes-Legien-Abkommens vom 15. November 1918, dessen Ergebnis die Errichtung der sogenannten Zentralarbeitsgemeinschaft von Arbeitgebern und Arbeitnehmern war. Stinnes, als Vertreter der Unternehmer, und Legien, der Führer der sozialistischen Gewerkschaften, einigten sich über folgende Punkte: Die Unternehmer werden künftig die »gelben Werkvereine« nicht mehr unterstützen und nur unabhängige Gewerkschaften anerkennen. Sie akzeptieren den kollektiven Arbeitsvertrag als Mittel zur Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen und versprechen die generelle Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften in wirtschaftlichen Angelegenheiten. Es dürfte kaum ein eindeutigeres pluralistisches Dokument gegeben haben als dieses Übereinkommen zwischen privaten Gruppen, das als zukünftige Struktur der deutschen Arbeitsverhältnisse ein von autonomen Gruppen errichtetes und kontrolliertes kollektivistisches System etablierte.
3. Die Vereinbarung vom 22. und 23. März 1919 zwischen der Regierung, der Sozialdemokratischen Partei und anderen führenden Parteirepräsentanten enthielt die folgende Bestimmung:
»Zur Mitwirkung an Sozialisierungsmaßnahmen, zur Kontrolle sozialistischer Betriebe, zur Überwachung der Gütererzeugung und Verteilung im gesamten Wirtschaftsleben sind gesetzlich geordnete Arbeitervertretungen zu schaffen. In dem zu diesem Zweck schleunigst zu schaffenden Gesetz sind Bestimmungen zu treffen über die Wahl und Aufgaben von Betriebs-, Arbeiter- und Angestelltenräten, die bei der Regelung der allgemeinen Arbeitsverhältnisse gleichberechtigt mitzuwirken haben. Es sind weiter Bezirksarbeiterräte und ein Reichsarbeiterrat vorzusehen, die vor dem Erlaß wirtschaftlicher und sozialpolitischer Gesetze ebenso wie die Vertretungen aller übrigen schaffenden Stände gutachtlich zu hören sind und selbst Anträge auf Erlaß solcher Gesetze stellen können. Die entsprechenden Bestimmungen sind in der Verfassung der deutschen Republik festzulegen.«
Im Artikel 165 der Weimarer Verfassung sind dann zwar die Bestimmungen dieses gemeinsamen Beschlusses aufgenommen worden, aber mit Ausnahme des Gesetzes von 1920, das die Errichtung von Arbeiterräten anordnete21, wurde nichts zur Erfüllung des Versprechens getan.
4. Das Verhältnis zwischen dem Reich und den einzelnen Ländern wurde in einer Vereinbarung vom 26. Januar 1919 festgelegt. Der Traum vom deutschen Einheitsstaat wurde ebenso wie Hugo Preuß’ Forderung verworfen, Preußen als ersten Schritt zur Einheit Deutschlands aufzugliedern. Das föderative Prinzip wurde, wenn auch in abgeschwächter Form, wieder zum Bestandteil der Verfassung erhoben.
5. Endlich wurden sämtliche früheren Vereinbarungen in eine Übereinkunft der Parteien der Weimarer Koalition eingebettet: der Sozialdemokratischen Partei, des katholischen Zentrums und der Demokraten. Diese Übereinkunft enthielt den gemeinsamen Beschluß, so bald wie möglich eine Nationalversammlung einzuberufen, den bestehenden Status der Bürokratie und der Kirchen anzuerkennen, die Unabhängigkeit der Justiz zu sichern und die Macht unter den verschiedenen Schichten des deutschen Volkes zu teilen, so wie es später im den Grundrechten und -pflichten des deutschen Volkes gewidmeten Verfassungsteil geschah.
Als die Verfassung schließlich angenommen wurde, war sie mithin in erster Linie eine Kodifikation von bereits vorab getroffenen Vereinbarungen verschiedener soziopolitischer Gruppen, von denen jede für sich in gewissem Umfang die Anerkennung ihrer Sonderinteressen gefordert und erreicht hatte.
3. Die sozialen Kräfte
Die Hauptstützen des pluralistischen Systems waren die Sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften. Sie allein hätten im Deutschland der Nachkriegszeit die großen Massen des Volkes auf die Seite der Demokratie bringen können, und zwar nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Mittelschichten, den Teil der Bevölkerung, der am meisten unter dem Monopolisierungsprozeß zu leiden hatte.
Die übrigen Schichten reagierten auf die verwickelte Nachkriegslage und nachrevolutionäre Situation genau so, wie zu erwarten war. Die Großgrundbesitzer verfolgten auf allen Gebieten eine reaktionäre Politik. Die monopolistische Industrie haßte und bekämpfte die Gewerkschaften und das politische System, das den Gewerkschaften ihren Rang verliehen hatte. Die Armee nahm jedes verfügbare Mittel zur Stärkung des chauvinistischen Nationalismus wahr, um ihre einstige Größe wiederherzustellen. Die Justiz schlug sich nach wie vor auf die Seite der Rechten, und das Beamtentum unterstützte konterrevolutionäre Bewegungen. Dagegen war die Sozialdemokratie außerstande, die gesamte Arbeiterklasse oder die Mittelschichten zu organisieren; Teile der Arbeiterklasse fielen von ihr ab, und im Mittelstand konnte sie nie richtig Fuß fassen. Den Sozialdemokraten fehlte eine fähige Führung, eine konsistente Theorie und die nötige Handlungsfreiheit. Ohne daß es ihnen bewußt war, stärkten sie die monopolistischen Tendenzen in der deutschen Industrie. Und da sie volles Vertrauen in ein formalistisches Legalitätsprinzip setzten, waren sie unfähig, die reaktionären Elemente in Justiz und Beamtentum auszuschalten oder die Armee auf die ihr verfassungsmäßig zustehende Rolle zu beschränken.
Der starke Mann der SPD, Otto Braun, preußischer Ministerpräsident bis zum 20. Juni 1932, als er durch den Hindenburg-Papen-Staatsstreich seines Amtes enthoben wurde, schreibt das Versagen seiner Partei und die erfolgreiche Machtergreifung Hitlers einer Kombination aus Versailles und Moskau zu.22 Diese Verteidigung ist weder richtig noch besonders geschickt. Natürlich lieferte der Versailler Vertrag ausgezeichnetes Propagandamaterial gegen die Demokratie im allgemeinen und die Sozialdemokratische Partei im besonderen, und zweifellos gelangen der Kommunistischen Partei Einbrüche bei Sozialdemokraten. Aber primär verantwortlich für den Untergang der Republik war keines von beidem. Wären indessen Versailles und Moskau tatsächlich die zwei hauptverantwortlichen Faktoren für das Entstehen des Nationalsozialismus gewesen, hätte dann nicht die Aufgabe einer großen demokratischen Führung gerade darin bestanden, für das Funktionieren der Demokratie trotz und gegen Moskau und Versailles zu sorgen? Ungeachtet aller offiziellen Erklärungen bleibt es die entscheidende Tatsache, daß die Sozialdemokratische Partei versagte. Sie versagte, weil sie nicht sah, daß das zentrale Problem der Imperialismus des deutschen Monopolkapitals war, welches sich mit dem ständig zunehmenden Monopolisierungsprozeß immer dringlicher stellte. Je mehr die Monopole wuchsen, desto weniger ließen sie sich mit der politischen Demokratie vereinbaren.
Eines der vielen großen Verdienste von Thorstein Veblen war es, daß er auf diese spezifischen Merkmale des deutschen Imperialismus aufmerksam