Das wenige, was der Sozialdemokratie an Handlungsfreiheit blieb, wurde von der Kommunistischen Partei noch weiter eingeschränkt. Außer in den Tagen der Revolution von 1918 und 1919 und in den Sturmzeiten von Inflation und ausländischer Besetzung, die im Juli 1923 ihren Höhepunkt erreichten, war die KPD keine unmittelbar entscheidende politische Kraft. Das eine Mal wollte sie eine kleine Sekte von Berufsrevolutionären nach dem Vorbild der Bolschewiki von 1917 sein, das andere Mal eine »revolutionäre Massenorganisation«, eine Art Synthese zwischen dem frühen russischen Modell und einer Struktur gleich der SPD. Ihre eigentliche Bedeutung lag in der Tatsache, daß sie einen ganz erheblichen indirekten Einfluß ausübte. Ein gründliches Studium der Kommunistischen Partei würde vermutlich mehr über die Eigenschaften der deutschen Arbeiterklasse und bestimmter Teile der Intelligenz zutage fördern als eine Untersuchung der größeren Sozialistischen Partei und der Gewerkschaften.
Beide, Kommunisten wie Sozialisten, sprachen primär dieselbe soziale Schicht an: die Arbeiterklasse. Die bloße Existenz einer überwiegend proletarischen Partei, die sich dem Kommunismus und der Diktatur des Proletariats verschrieben hatte und von dem magischen Bild Sowjetrußlands sowie den Heldentaten der Oktoberrevolution beflügelt wurde, war eine permanente Bedrohung für die Sozialdemokratische Partei und die führenden Kräfte in der Gewerkschaftsbewegung, zumal in Zeiten wirtschaftlicher Krisen und sozialer Unruhen. Daß diese Bedrohung eine reale war, obwohl nie in gleichbleibender Stärke, geht klar aus den Wahlergebnissen und Mitgliederzahlen hervor. Zwar gelang es den Kommunisten nicht, eine Mehrheit der Arbeiterklasse zu organisieren, die Sozialistische Partei zu zerschlagen oder die Kontrolle der Gewerkschaften an sich zu reißen. Der Grund dafür lag in ihrem Unvermögen, die unter den deutschen Arbeitern wirkenden psychologischen Faktoren und soziologischen Trends richtig einzuschätzen, so gut wie in ihrer Unfähigkeit, die materiellen Interessen und ideologischen Bande zu zerreißen, welche die Arbeiter an das vom Reformismus entwickelte System der pluralistischen Demokratie ketteten. Dennoch schwankte die reformistische Politik schon allein wegen der Drohung, die Arbeiter könnten den reformistischen Organisationen den Rücken kehren und zur Kommunistischen Partei überlaufen, ständig hin und her. Ein ausgezeichnetes Beispiel dafür bietet die zögernde Duldung des Kabinetts Brüning (1930–1932) durch die Sozialdemokratische Partei, verglichen mit ihrer unmißverständlichen Opposition gegenüber den Kabinetten Papen und Schleicher (1932). Die Kommunistische Partei hatte alle drei als faschistische Diktaturen angegriffen.
Die Reaktionäre fanden in der Kommunistischen Partei einen bequemen Prügelknaben nicht allein für den Kampf gegen Kommunisten und Marxisten, sondern gegen alle liberalen und demokratischen Gruppen. Für die Nationalsozialisten (und die italienischen Faschisten) waren Demokratie, Liberalismus, Sozialismus und Kommunismus allesamt Äste ein und desselben Baumes. Jedes Gesetz, das angeblich gegen Kommunisten und Nationalsozialisten gerichtet war, wurde stets gegen die Sozialistische Partei und die gesamte Linke, aber selten gegen die Rechte angewendet.
Die Politik der Kommunistischen Partei selbst war auffallend ambivalent. Einerseits vermittelte sie den Arbeitern genügend kritische Einsichten, um die Funktionsweise des Wirtschaftssystems zu durchschauen und ließ ihnen damit wenig Glauben an die Sicherheit, die Liberalismus, Demokratie und Reformismus verhießen. Sie öffnete ihnen recht früh die Augen über den vorübergehenden und vollkommen fiktiven Charakter des nachinflationären Wirtschaftsaufschwungs. Der fünfte Weltkongreß der Komintern hatte am 9. Juni 1924 erklärt, der Kapitalismus sei in einem Stadium der akuten Krise. Obwohl diese Analyse verfrüht und die daraus folgende »linke« Taktik der KP vollkommen irrig war, beugte sie doch der Selbstzufriedenheit, die sich unter den Sozialisten breitmachte, vor. Diese sahen in dem mit Auslandsanleihen finanzierten Boom die Lösung aller Wirtschaftsprobleme und hielten jeden sozialdemokratischen Bürgermeister oder Stadtkämmerer für ein Finanzgenie ersten Ranges, wenn es ihm gelang, von den USA einen Kredit zu bekommen. Selbst auf dem absoluten Höhepunkt des Booms prophezeiten die kommunistischen Führer, daß der Welt eine schwere Wirtschaftskrise bevorstehe, und so war ihre Partei gegen die Gefahren des reformistischen Optimismus gefeit.
Andererseits wurden die verdienstvollen Seiten der kommunistischen Analyse durch den zutiefst rückständigen Charakter ihrer Politik und Taktik mehr als aufgewogen: der Verbreitung des Führerprinzips innerhalb der Partei und Zerstörung der innerparteilichen Demokratie als einer Folge der völligen Abhängigkeit von der Politik der sowjetischen KP, dem starken Übergewicht der »revolutionären« Gewerkschaftstaktik, der »national-bolschewistischen Linie«, der Lehre vom Sozialfaschismus, der Parole der Volksrevolution und schließlich dem häufigen Wechsel der Parteilinie.
Der einzige andere potentielle Verbündete, die katholische Zentrumspartei, erwies sich als vollkommen unzuverlässig. Unter Erzberger und eine gewisse Zeit unter Josef Wirth hatte das Zentrum die mitreißendste demokratische Führung gestellt, die die Republik je erlebte. Mit dem Wachstum der Reaktion gewann indes der rechte Flügel mehr und mehr das Übergewicht in der Partei, wobei Brüning der Vertreter der gemäßigten Konservativen und Papen der Sprecher des reaktionären Teils war. Von den übrigen Parteien verschwand die Demokratische Partei von der politischen Bühne, und zahlreiche Splittergruppen versuchten, ihren Platz als Sprachrohr des Mittelstandes einzunehmen. Hausbesitzer, Handwerker, kleine Bauern bildeten ihre eigenen Parteien; »Aufwertungsanhänger« organisierten eine eigene politische Bewegung. Sie alle konnten eine gewisse politische Repräsentation erlangen, weil das System der Verhältniswahl jeder Sektiererbewegung eine Stimme zugestand und das Zustandekommen solider Mehrheiten verhinderte.
5. Die Konterrevolution
Schon an dem selben Tag des Jahres 1918, da die Revolution ausbrach, begann sich die konterrevolutionäre Partei zu organisieren. Sie versuchte sich in vielerlei Formen und mit zahlreichen Mitteln, lernte aber bald, daß sie nur mit Hilfe, niemals aber gegen den Staatsapparat zur Macht kommen konnte. Der Kapp-Putsch von 1920 und der Hitler-Putsch von 1923 hatten dies erwiesen.
Im Zentrum der Konterrevolution stand die Justiz. Anders als Verwaltungsakte, die sich aus Erwägungen der Angemessenheit und Zweckmäßigkeit ergeben, beruhen richterliche Entscheidungen auf dem Gesetz, das heißt auf Recht und Unrecht. Stets stehen sie im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Gerade wegen des Glorienscheins, der die Begriffe ›Recht‹ und ›Gerechtigkeit‹ umgibt, ist das Gesetz wohl die verderblichste aller Waffen im politischen Kampf. »Das Recht«, sagte Hocking, »ist in psychologischer Hinsicht ein Wert, dessen Mißachtung mit tieferem Abscheu begegnet wird als das Unrecht selbst es rechtfertigen würde, ein Abscheu, der sich bis zur Leidenschaft steigern kann, für die die Menschen Leben und Eigentum wie für keinen anderen Zweck riskieren«.33 Wenn sie ›politisch‹ wird, erzeugt die ›Gerechtigkeit‹ Haß und Verzweiflung bei denen, die sie treffen will. Auf der anderen Seite entwickeln jene, die von ihr begünstigt werden, eine tiefe Verachtung für den Wert der Gerechtigkeit selbst, denn sie wissen, daß sie für die Mächtigen käuflich ist. Als Mittel, eine politische Gruppe auf Kosten einer anderen zu stärken, den Gegner auszuschalten und den politischen Verbündeten zu stützen, bedroht das Gesetz sodann die fundamentalen Überzeugungen, auf denen die Tradition unserer Zivilisation ruht.
In jedem Gesetzessystem finden sich vielfältige technische Möglichkeiten, das Recht zu politischen Zwecken zu pervertieren. Im republikanischen Deutschland waren sie genau so zahlreich wie die Paragraphen des Strafgesetzbuches.34 Vielleicht lag das hauptsächlich am Charakter des Strafprozesses selbst, denn im Unterschied zum amerikanischen System ist die dominierende Gestalt im deutschen Verfahren nicht der Anwalt, sondern der vorsitzende Richter.