Der Politik des kleineren Übels weiter folgend, unterstützte die Partei die Wiederwahl Hindenburgs im April 1932.
Hindenburg zahlte seine Schuld prompt zurück, indem er den Staatsstreich vom 20. Juni 1932 über die Bühne gehen ließ und anstelle der rechtmäßig gewählten preußischen Landesregierung unter Otto Braun (SPD) seinen Günstling Papen einsetzte. Alles, was die Sozialdemokratische Partei dagegen unternahm, war ein Appell an den Verfassungsgerichtshof, der ein Kompromißurteil sprach, das die politische Situation nicht antastete; Papen blieb als Reichskommissar für Preußen. Die Sozialdemokratische Partei wurde völlig demoralisiert; die letzte Hoffnung eines Widerstandes gegen die Nationalsozialisten schien geschwunden zu sein.
Die Kommunisten waren nicht weniger optimistisch gewesen als die Sozialisten, wenn auch aus anderen Gründen. »Wir … stellten nüchtern und ernst fest«, so sagte Thälmann, »daß der 14. September gewissermaßen Hitlers bester Tag« war, »dem keine besseren, aber eher schlechtere folgen werden«45. Sie erwarteten in unmittelbarer Zukunft eine soziale Revolution, die zur Diktatur des Proletariats führen werde. Bei den Novemberwahlen von 1932 verloren die Nationalsozialisten 34 Sitze. Die Sozialdemokraten, die nur in parlamentarischen Kategorien dachten, frohlockten: Der Nationalsozialismus ist geschlagen. Rudolf Hilferding, ihr führender Theoretiker und Herausgeber der Parteizeitschrift »Die Gesellschaft«, veröffentlichte in der Ausgabe vom Januar 1933 einen »Zwischen den Entscheidungen« überschriebenen Artikel. Er meinte, daß der Nationalsozialismus durch die parlamentarische Legalität blokkiert werde (Malapartes Vorstellung)46. Hilferding wurde kühn. Er verweigerte die Zusammenarbeit mit Schleicher, Hitlers unmittelbarem Vorgänger, und lehnte die Einheitsfront mit der Kommunistischen Partei ab. Das Hauptziel der Sozialisten, so sagte er, ist der Kampf gegen den Kommunismus. Er verspottete Hitlers Versuch, diktatorische Machtbefugnisse von Hindenburg zu erhalten: »Ohne die Revolution die Resultate der Revolution zu fordern, diese politische Konstruktion konnte nur im Gehirn eines deutschen Politikers entstehen.«47 Hilferding vergaß dabei, daß der italienische Politiker Mussolini genau dieselbe Idee besessen und sie erfolgreich verwirklicht hatte.
Nur wenige Tage nach Erscheinen von Hilferdings Artikel übernahm Hitler die Macht. Am 4. Januar 1933 arrangierte der Kölner Bankier Kurt von Schröder, dessen Name in der Geschichte des Nationalsozialismus eine tiefe Bedeutung gewann, jene Unterredung zwischen Papen und Hitler, die eine Aussöhnung der alten reaktionären Gruppen mit der neuen konterrevolutionären Bewegung herbeiführte und der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar den Weg ebnete. Es war die Tragik der Sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaften, daß ihre führenden Männer zwar hohe intellektuelle Qualitäten besaßen, aber bar jeden Gefühls für die Verfassung der Massen und ohne jede Einsicht in die großen gesellschaftlichen Veränderungen der Nachkriegszeit waren.
Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei besaß keine Ideologie, war aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten zusammengewürfelt und zögerte niemals, den Bodensatz aller Bevölkerungsteile aufzunehmen, wurde von der Armee, der Justiz und von Teilen der Beamtenschaft unterstützt, von der Industrie finanziert, machte sich die antikapitalistischen Gefühle der Massen zunutze und war doch vorsichtig genug, die einflußreichen Geldgeber nie zu verprellen. Terror und Propaganda bemächtigten sich der schwachen Stellen der Weimarer Demokratie, und von 1930 bis 1933 war sie nur noch eine einzige große schwache Stelle.
»Ein Mann, der die Macht besitzt«, sagte Woodrow Wilson in seiner Botschaft in Kansas am 6. Mai 1911, »der aber gewissenlos ist, könnte, wenn er eine beredte Zunge hat und sich um nichts anderes als seine eigene Macht kümmert, dieses ganze Land in Brand setzen, weil dieses ganze Land glaubt, daß etwas nicht stimmt, und weil es begierig ist, jenen zu folgen, die vorgeben, es aus seinen Schwierigkeiten herausführen zu können.«48
7. Versuch einer Zusammenfassung
Jedes Gesellschaftssystem muß die primären Bedürfnisse seiner Menschen auf die eine oder andere Weise befriedigen. Dem Kaiserreich gelang dies in dem Maße und so lange, wie es expandieren konnte. Eine erfolgreiche Kriegspolitik und imperialistische Expansion hatten große Teile der Bevölkerung mit dem Semi-Absolutismus ausgesöhnt. Angesichts der erzielten materiellen Vorteile hatte der anomale Charakter der politischen Struktur keine entscheidende Bedeutung. Die Armee, die Bürokratie, die Industrie und die agrarischen Großgrundbesitzer herrschten. Die Theorie des Gottesgnadentums – die offizielle politische Doktrin – verschleierte lediglich diese Herrschaft und wurde nicht ernstgenommen. Die kaiserliche Herrschaft war in Wirklichkeit nicht absolutistisch, denn sie war an das Gesetz gebunden und stolz auf ihre ›Rechtsstaat‹-Theorie. Als ihrer expansionistischen Politik Einhalt geboten wurde, hatte sie ausgespielt und dankte ab.
Die Weimarer Demokratie schlug eine andere Richtung ein. Sie mußte ein verarmtes und erschöpftes Land wiederaufbauen, in dem sich die Klassengegensätze schroff ausgeprägt hatten. Sie versuchte, drei Elemente miteinander zu verschmelzen: das Erbe der Vergangenheit (insbesondere das Beamtentum), die parlamentarische Demokratie nach westeuropäischem und amerikanischem Muster und einen pluralistischen Kollektivismus, die direkte Eingliederung der mächtigen Sozial- und Wirtschaftsverbände in das politische System. Was sie jedoch tatsächlich hervorbrachte waren verschärfte soziale Antagonismen, den Zusammenbruch der freiwilligen Kooperation, die Zerstörung parlamentarischer Institutionen, das Wachstum einer herrschenden Bürokratie und die Wiedergeburt der Armee als eines entscheidenden politischen Faktors.
Warum?
In einem verarmten, doch hochindustrialisierten Land konnte der Pluralismus nur unter den folgenden – unterschiedlichen – Bedingungen funktionieren: Erstens ließ sich Deutschland mit ausländischer Hilfe wiederaufbauen, indem es seine Märkte auf friedlichem Wege, dem hohen Stand seiner industriellen Kapazität entsprechend, ausdehnte. Die Außenpolitik der Weimarer Republik ging in diese Richtung. Mit ihrem Beitritt zum Konzert der westeuropäischen Mächte hoffte die Weimarer Regierung, Konzessionen zu erhalten. Der Versuch scheiterte. Er wurde weder von der deutschen Industrie und den Großgrundbesitzern, noch von den Westmächten unterstützt. Im Jahr 1932 befand sich Deutschland in einer katastrophalen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise.
Zweitens konnte das System auch dann funktionieren, wenn die herrschenden Gruppen freiwillig oder unter staatlichem Zwang Zugeständnisse machten. Das hätte für die Masse der deutschen Arbeiter zu einem besseren Leben und den Mittelstand zur Sicherheit geführt – auf Kosten der Profite und der Macht des Großkapitals. Die deutsche Industrie stemmte sich jedoch mit Entschiedenheit dagegen, und der Staat stellte sich mehr und mehr auf ihre Seite.
Die dritte Möglichkeit war die Umwandlung in einen sozialistischen Staat, und das war 1932 vollkommen irreal geworden, da die Sozialdemokratische Partei nur noch dem Namen nach sozialistisch war.
Die Krise von 1932 zeigte, daß politische Demokratie allein, ohne eine stärkere Ausnutzung der dem deutschen Industriesystem innewohnenden Möglichkeiten, d. h. ohne die Beseitigung der Arbeitslosigkeit und ohne eine Verbesserung des Lebensstandards, nur eine leere Hülse blieb.
Die vierte Möglichkeit war die Rückkehr zur imperialistischen Expansion. Imperialistische Wagnisse im Rahmen der traditionellen demokratischen Form konnten jedoch nicht organisiert werden, denn die Opposition dagegen wäre zu stark gewesen. Sie konnten auch nicht die Form einer Restauration der Monarchie annehmen. Eine Industriegesellschaft, die eine demokratische Phase durchschritten hat, kann die Massen nicht aus ihren Erwägungen ausklammern. Daher nahm der neue Expansionismus die Form des Nationalsozialismus an, einer totalitären Diktatur, der es gelungen ist, einen Teil ihrer Opfer in Anhänger und das ganze Land in ein unter eiserner Disziplin gehaltenes bewaffnetes Lager zu verwandeln.
Erster Teil
Die politische Struktur des Nationalsozialismus
Einführende Bemerkungen über