Der unmittelbare und opportunistische Zusammenhang zwischen der nationalsozialistischen Doktrin und der Realität macht ein detailliertes Studium der Ideologie zwingend notwendig. Normalerweise müssen wir die Vorstellung, die Soziologie könne die Richtigkeit oder Falschheit eines Denksystems bestimmen, indem sie seine soziale Herkunft untersucht oder es einer bestimmten Klasse der Gesellschaft zuordnet, ablehnen. Aber im Falle der nationalsozialistischen Ideologie müssen wir uns auf soziologische Methoden stützen. Es gibt keine andere Möglichkeit, die Wahrheit zu ermitteln; am allerwenigsten geht sie aus den expliziten Äußerungen der »NS-Führer« hervor.
Die Weltherrschaft ist vielleicht nicht das bewußte Ziel des Nationalsozialismus, doch werden ökonomische und soziale Antagonismen ihn dazu treiben, seinen Machtbereich weit über die Grenzen Europas hinaus auszudehnen. Die doktrinären Elemente der Ideologie lassen keinen anderen Schluß zu, trotz allen Leugnens, ja sogar trotz der Tatsache, daß Hitler selbst eine weithin verbreitete Rede des Landwirtschaftsministers Darré, welche die Weltherrschaft als das Ziel des Nationalsozialismus verkündete, als eine »dumme und infame Lüge« denunzierte (siehe seine Neujahrsansprache an das deutsche Volk nach der Wiedergabe der Frankfurter Zeitung vom 1. Januar 1941). Um diese Behauptung zu beweisen, müssen wir jedes einzelne Element der Doktrin für sich analysieren.
Hinter einer Unmenge irrelevanten Kauderwelsches, von Banalitäten, Verdrehungen und Halbwahrheiten können wir das relevante und entscheidende zentrale Thema der Ideologie erkennen: daß alle traditionellen Lehren und Werte verworfen werden müssen, ob sie aus dem französischen Rationalismus oder dem deutschen Idealismus, dem englischen Empirismus oder dem amerikanischen Pragmatismus stammen, ob sie liberale oder absolutistische, demokratische oder sozialistische sind.1 Sie alle stehen dem fundamentalen Ziel des Nationalsozialismus feindlich gegenüber: die Diskrepanz zwischen den potentiellen und den bisherigen und gegenwärtig noch bestehenden Möglichkeiten des deutschen Industrieapparates durch einen imperialistischen Krieg zu lösen.
Bei den vom Nationalsozialismus negierten Werten und Begriffen handelt es sich um die philosophischen, juristischen, soziologischen und ökonomischen Kategorien, mit denen wir tagtäglich umgehen und die unsere Gesellschaft kennzeichnen. Viele von ihnen, wie z. B. der Begriff der Staatssouveränität, der oft für reaktionär gehalten wird, enthüllen bei eingehender Analyse ihren progressiven Charakter und demonstrieren dadurch ihre Unvereinbarkeit mit dem Nationalsozialismus. Wir werden in unserer Untersuchung der nationalsozialistischen Ideologie jedes einzelne Element für sich aufgreifen und seine aktuelle Funktion innerhalb der politischen, soziologischen, juristischen und ökonomischen Struktur des Regimes aufzeigen. Die hierbei entwickelten Kategorien entsprechen nicht unbedingt den entscheidenden Wachstumsphasen der nationalsozialistischen Ideologie, wenngleich einige davon mit ihnen übereinstimmen.
In ihrer äußeren Form, als Propaganda, unterscheidet sich die totalitäre Ideologie von demokratischen Ideologien nicht nur, weil sie als einzige und ausschließliche auftritt, sondern weil sie mit Terror verschmolzen ist. Im demokratischen System tritt eine Ideologie als eine von vielen auf. Tatsächlich impliziert der Begriff »Ideologie« selbst ein Konkurrenzverhältnis zwischen verschiedenen Denkstrukturen innerhalb der Gesellschaft. Die nationalsozialistische Doktrin kann nur insofern als »Ideologie« bezeichnet werden, als sie auf dem Weltmarkt der Ideen gewissermaßen mit anderen Ideologien konkurriert, obwohl sie sich auf dem inneren Markt natürlich als einzig und souverän darstellt. Die demokratische Ideologie ist dann erfolgreich, wenn sie überzeugend oder anziehend ist; die NS-Ideologie überzeugt durch die Anwendung von Terror. Gewiß wachsen auch in Demokratien denjenigen materielle Vorteile zu, die die herrschende Ideologie akzeptieren und nicht bei Gelegenheit Gewalt erdulden müssen; doch gestattet das demokratische System zumindest die Kritik dieser Allianz und bietet konkurrierenden Elementen und Kräften eine Chance.
Der Nationalsozialismus hat keine Theorie der Gesellschaft in unserem Sinne, keine konsistente Vorstellung ihrer Funktionsweise, Struktur und Entwicklung. Er will bestimmte Ziele durchsetzen und paßt seine ideologischen Äußerungen einer Reihe von ständig wechselnden Schritten an. Dieses Fehlen einer grundlegenden Theorie ist ein Unterschied zwischen dem Nationalsozialismus und dem Bolschewismus. Die nationalsozialistische Ideologie verändert sich ständig. Sie besitzt zwar gewisse magische Überzeugungen – Führerkult, Oberherrschaft der Herrenrasse – aber die Ideologie ist nicht in einer Reihe von begrifflich bestimmten Lehrsätzen festgelegt.
Darüber hinaus gestatten uns die Veränderungen seiner Ideologie, zu bestimmen, ob es dem Nationalsozialismus gelungen ist, die Sympathie des deutschen Volkes zu gewinnen. Denn wo ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der erklärten Ideologie und der politischen Realität besteht, müssen Veränderungen der formulierten Doktrin aus der Tatsache hervorgehen, daß die frühere Doktrin auf bestimmte Schichten der deutschen Bevölkerung keine Anziehungskraft ausgeübt hat.
I. Der totalitäre Staat
1. Die Techniken antidemokratischer Verfassungstheorie
Das Scheitern des Kapp-Putsches im Jahr 1920 und des Hitler-Putsches 1923 lehrte die Nationalsozialisten, daß der coup d’état in unserer Welt keine geeignete Technik zur Ergreifung der politischen Macht darstellt. Curzio Malaparte schrieb ein in breiten Kreisen gelesenes Buch zur Rechtfertigung des Staatsstreiches.1 Er meinte, daß der Weg zu einer erfolgreichen Revolution im Griff einer kleinen Gruppe von Stoßtrupps und hochgeschulten Verschwörern nach den Schlüsselpositionen des Staatsapparates besteht. Zum Beweis führte er die Russische Revolution von 1917, den Kapp-Putsch, die Machtergreifung der Faschisten in Italien, den Streich von Pilsudski in Polen und Primo de Rivera in Spanien an. Die Wahl seiner Beispiele hätte kaum schlechter sein können. Der Erfolg der Bolschewistischen Revolution kann zum Teil Praktiken nach der Art Malapartes zugeschrieben werden, aber noch weit mehr der Tatsache, daß die Kerenskij-Regierung schwach war und sich die russische Gesellschaft in voller Desintegration befand. Der Kapp-Putsch war ein Fehlschlag, Mussolinis »Marsch auf Rom« ein Mythos. Ähnlich steht es mit der gleichermaßen untauglichen militärischen Theorie, eine hochtrainierte, mit den modernsten Waffen ausgerüstete Armee sei einer großen Massenarmee notwendig überlegen. Die Siege der Deutschen im gegenwärtigen Krieg waren das Ergebnis der gewaltigen militärischen Übermacht einer Massenarmee, vereint mit hochmechanisierten Stoßtrupp-Divisionen – und ebenso der moralischen Zerrüttung ihrer Gegner.
Leider irrte Malaparte, als er 1932 voraussagte, daß Hitler, den er als »Möchtegern-Führer« apostrophierte, als »bloße Mussolini-Karikatur«, niemals an die Macht käme, weil er sich ausschließlich auf opportunistische parlamentarische Methoden verlasse. Natürlich hatten die Nationalsozialisten recht und Malaparte unrecht. In seiner Gedenkrede vom 8. November 1935 gab Hitler selbst zu, daß sein früher Putsch ein Fehler war: »Das Schicksal aber hat es dann gut gemeint mit uns. Es hat eine Aktion nicht gelingen lassen, die, wenn sie gelungen wäre, am Ende an der inneren Unreife der Bewegung und ihrer damaligen mangelhaften organisatorischen und geistigen Grundlagen hätte scheitern müssen. Wir wissen das heute! Damals haben wir nur männlich und tapfer gehandelt. Die Vorsehung aber hat weise gehandelt.«
Nach dem Münchener Fiasko ist die Nationalsozialistische Partei eine »legale« geworden. Sie gelobte feierlich, nicht zum Hochverrat oder einem revolutionären Umsturz der Verfassung aufzurufen. Als Zeuge bei einem Prozeß gegen des Hochverrats angeklagte nationalsozialistische Reichswehroffiziere schwor Hitler am 25. September 1930 seinen berühmten »Reinheitseid«, den Legalitätseid. Die Sturmtruppen, die SA, wurden als harmlose Sport- und Parade-Verbände ausgegeben. Kaum eine politische Partei bestand lautstärker als