So schon von Heraklit und Xenophanes, die doch wahrlich noch ursprungnahe Denker waren. Bereits ein halbes Jahrtausend vor Christus, kaum zwei Säkula nach Hesiod empfanden einzelne Geister es unerträglich, den Göttern Geilheit, Gattung und Geburt „anzudichten”, was man nun sittenstreng richterlich dem Sänger vorwarf. Man wollte Götter ohne Unterleib, überhaupt leiblose Götter, denaturierte und depotenzierte Götter, sterile und spirituelle Götter, die ganz rein, nicht aber nackt sein sollten. Götter ohne Geschlecht, intelligible Persëitäten und ontologische Hypostasen, nicht aber generative, sich überschäumend fortpflanzende und hoheitlich zügellos über alle Satzungen bürgerlicher Wohlanständigkeit hinwegsetzende Götter.
Hingegen Hesiods überschwängliche Freude am Getümmel theogonischen Werdens! Kaum ist Aphrodite dem Schaum entstiegen, da gebiert die Nacht, die früher schon den Tag und den Äther geboren hat, im Gegenzug eine ganze Brut dunkler Gestalten: Schicksal (Moros), Finsteres Ende (Ker), Tadelsucht (Momos) und Tod (Thanatos), Drangsal (Oizys) und Vergeltung (Nemesis), aber auch Schlaf (Hypnos) und Traum (Morpheus). Obwohl mit Erebos vermählt, bringt sie parthenogenetisch des weiteren hervor die Hesperiden („Abendtöchter”), Moiren („Lebensfadenspinnerinnen”) und weitere Wesen, die sich ihrerseits fortpflanzen: Apate („Trug”), Geras („Alter”), Philotes („Liebeslust”) und Eris („Streit”). Jeder Name emblematisches Bild, heraldische Ikone, zu langbedächtiger Betrachtung stimmendes Mandala!
Nachdem Uranos entmannt ist, gibt sich Mutter Erde ihrem anderen Sohn hin, dem Meergott Pontos. Dieser inzestuösen Verbindung entspringen weitere Kinder, darunter Thaumas (das gestaltgewordene Staunen oder Wunderbare) und der später von Poseidon etwas in den Schatten gestellte weitere Seegott Nereus, von dem es heißt, daß er untrüglich wahrspreche, und der wohl deshalb auf verborgenen Umwegen in den christlichen Heiligenkalender gelangt ist …
Mit Nereus, dessen Mutter zugleich seine Großmutter ist, wird plötzlich alles wieder heiter, sobald er sich mit der Okeanide Doris vermählt. Welch ein Bild: die fünfzig lieblichen Töchter, Nereiden oder Doriden genannt, jede mit Namen begabt! Eine Ernte holdester Ausgeburten, väterlicher- wie mütterlicherseits meerentsprungen, eine Scheune voller Mädchen, in kristallenen Wogen sich ergötzend, letzend und scherzend. Mittelmeerisches Glück, jede Welle sich in einem bezaubernden Antlitz inkarnierend, Wasser gestalthaft geballt, gauklerisch zerfließend und erneut mutwillig spielerisch sich verkörpernd in immer aufs neue entzückenden jungfräulichen Metamorphosen!
Schmeichelndes, trübeloses, schmelzendes Glitzern und Flitzen, Locken und Kosen, Dichter, Leser und Seefahrer berückend, schon Hesiod dazu verführend, daß er einundfünfzig Namen nennt, obwohl er ausdrücklich von nur fünfzig Meernymphen spricht …
Welches Schwelgen in Namen, Taufe der wassergeborenen Kinder, heiligsprechende Schaumschlägerei, überbordende Hagiasmen … Hesiod ward gegeben ein Mund, evokatorisch lobpreisend große wie zarte Dinge und Wesen zu nennen … Welch arioses Rezitativ, diese Perlenkette sinnhaltig wohlklingender Namen: Ploto, „die Schimmernde”; Eukrante, „die Wohlgeführte”; Amphitrite, „die Rauschende”; Eudore, „Schöngeschenk”; Galene, „Windstille”; Glauke, „die Blauglänzende”; Speio, „die Grottige”; Kymothoë, „die Wogenschnelle”; Halia, „Salzflut”; Eulimene, „die vom guten Hafen”; Agaue, „die Hehre”; Erato, „Sehnsuchterweckerin”; Eunike, „Schönsiegerin”; Pasitheia, „Allgöttliche”; Dynamene, „mächtig Andrängende”; Pherusa, „Bringende”; Nesaia, „Inselwohnerin”; Aktaia, „Küstenwohnerin”; Panope, „Allblickende”; Galateia, „Milchantlitz”; Hippothoë, „Stutengeschwinde”; Kymodoke, „Wellenauffangende”; Kymatolege, „Wellenbesänftigerin”; Eione, „Strandmädchen”; Glaukomene, „Blausinnige”; Pontoporeia, „Meerdurchlässige”; Polynoë, „Vielsinnige”; Lysianassa, „Lösende”; Euarne, „Schönquellende”; Menippe, „übermütiges Füllen”; Eupompe, „Wohlbegleiterin”; Pronoë, „Vorsorgliche” …
Welche Fülle der Namen, jeder eine Facette des Meeres in all seinen Anblicken, Stimmungen und Leistungen! Jeder Name der Melusinenlitanei Beschwörung und Entzücken, Muschelmusik und Mannesrausch, nicht erst den gelehrten Antiquar bezaubernd, sondern von jeher griechischen Ohren liturgischer Wohlklang, apostrophischer Schmuck und Arznei halb hypnotisierender, halb aufreizender Harmonien. Goethes „Klassische Walpurgisnacht” im zweiten Teil des „Faust”, Claude Debussys von Mallarmé inspiriertes Orchesterwerk „L’après-midi d’un Faune” und noch Saint-John Perses „Amers” sind Widerhall der maritimen Apotheose Hesiods, der nichts götterleer sich vorstellen, nichts Gottverlassenes schauen kann, wohin immer er blickt. Von Azimut zu Azimut, vom Nadir zum Zenit, ist alles göttervoll, erfüllt von Göttergeburten, von göttlichen Scharen bevölkert, verwaltet und verherrlicht.
Mit Hesiod zu beginnen heißt, kein Ende finden zu können. Nicht einmal ein knappes Drittel seiner „Theogonie” habe ich zusammenraffend vorgestellt. Auch die Nereiden sind noch ursprungsnahe Weltenfrühlingswesen. Auf Uranos folgt Kronos, aber auch Kronos wird gestürzt durch seinen eigenen Sohn, der dann die Weltherrschaft antritt: Zeus. Welche Wendepunkte habe ich noch gar nicht berührt: Titanenkampf; Prometheus’ Opfertrug, Feuerraub, Bestrafung und Erhöhung; Pandoras verhängnisvolles Erscheinen; Atlas’ Weltenlast und Herakles’ Taten; die Hierogamien des Zeus mit Metis, Themis, Eurynome, Demeter, Mnemosyne und schließlich Hera. Wieviel wäre noch nachzutragen: Hesiods Unterwelt, seine Hymne auf Hekate, seine Nennung der Okeaniden, seine Schilderung des mit weltuntergangsähnlichen Verwüstungen einhergehenden Höllensturzes von Typhoeus, die Geburt der Athene, der Chariten und der Musen, des Hephaistos und der Persephone, der Zwillinge Apollon und Artemis … Aber sogar dann wäre ich noch nicht am Ende, denn es blieben noch die „Werke und Tage”, sein zweites großes Gedicht, wiederzugeben: die ausführlichere Fassung des Prometheus-, Epimetheus- und Pandora-Mythos, die Lehre von den fünf Weltaltern, das Hohelied der Gerechtigkeit und Arbeit, Hesiods Vorwegnahme des benediktinischen Imperativs „Bete und arbeite!”, seine Hausväterratschläge und Bauernkalenderweistümer … Hesiod und kein Ende; Hesiod, von dem Goethe rühmend sagt, daß bei ihm „Poesie, Religion und Philosophie ganz in eins zusammenfallen” … Hesiod, der Überlieferer der einzigen ganz erhaltenen mythischen Weltenstehungslehre der Griechen, die eine wahre Urgnosis darstellt …
Muß ich noch mehr sagen? Bedarf es noch weiterer Worte, um zu zeigen, wie nahe uns trotz seiner Ferne Hesiod ist, wie sehr uns trotz unbestreitbarer Befremdlichkeit seine blitzhaften Schauungen treffen? Diese Erfahrung wäre Allgemeingut, wenn man sich nicht weigerte, Hesiods Weltgedichte zu lesen.
Homer lebte im griechischen Kleinasien, Hesiod auf griechischem Festland in Europa. Hesiod der erste in so vielen Hinsichten, Boiotarch schlechthin, die Reihe der Granden eröffnend, mit der die abgelegene, im Rufe der Hinterwäldlerei stehende Landschaft Boiotien nicht nur Griechenland beschenkt hat: mit dem Paianschöpfer Pindar und dem Essayisten Plutarch, dem Pythagoreer, Strategen und Staatsmann Epameinondas und der Poetin Korinna von Tanagra.
Mag Homer zeitlich der ältere Dichter sein, so ist Hesiod seelisch der frühere. Von Homers Epen führen die Wege zur bildenden Kunst, zu den Skulpturen, mit denen die Hellenen das Land zusätzlich bevölkerten. Von Hesiod führen die Wege zur Philosophie, zur Kosmologie, zur Rechtsweisheit und Geschichtslehre.
Hesiod, mit dem so vieles anhebt, durch den so vieles fortlebt … Hesiod, durch den wir über den Ursprung wissen: das Chaos, das Werden und die Geburt …
Wie viele Potentaten und Eroberer sind entschwunden, vergessen ihre Befehle, zerfallen ihre Imperien und Paläste. Aber Hesiods gewaltlose Macht bezwingt noch heute, nach fast drei Jahrtausenden, und es ist keine angemaßte Macht eines Usurpators … Seine Nereiden leben, sogar dem Namen nach, im griechischen Volksglauben fort … Wir ahnen, daß die Welt über einem Abgrund von Schrecken errichtet ist; daß Recht, Ordnung und Olympiertum das Schauervolle nicht vernichten, sondern günstigstenfalls überwältigen, bändigen und umzäunen … Hesiod hat in mythischen