Im Dämmer der Urgeburt war die Urmutter, parthenogenetisch zeugend, geschwängert und gebärend, durchaus matriarchal. Gilt sogar für die Spätzeit, das fünfte, von Hesiod beklagte eiserne Weltalter, der Vorrang der Frau, die nicht nur, wie der Mann, geboren wird, sondern auch gebären kann, so steht um so mehr der tellurische, der bionome und kosmogonische Vorrang des Weiblichen fest. Die Magna Mater mundi ist in Hesiods Schau schlichtweg omnipotent. Sie kann nicht nur verschwenderisch weltenbildend gebären, sondern auch unerschöpflich und unbegattet zeugen. Sie bedarf nicht der Paarung. Der Mann taucht erst später auf. Die Frau als Mutter ist uranfänglich und unvordenklich, der Mann hingegen sub specie aeternitatis zweitrangig, erst nachträglich hinzukommender Sekundant im liebenden Kampf der Geschlechter.
Der hesiodeische Kosmos ist ganz und gar matriarchal, matrifokal und matrizentrisch: mutterursprünglich, mutterbezogen und muttermittig.
Wahrlich, zuerst entstand das Chaos und später die Erde,
Breitgebrüstet, ein Sitz von ewiger Dauer für alle
Götter …
Also setzt Hesiod nach Anrufung, Lobpreis und Eingedenken der ihm erschienenen Musen ein. Zuerst entstand das Chaos. Das ist nicht Poeterei. Das ist Ontologie in Hexametern, musisch gestiftete Ontophanie, Seinserscheinung und Seinsauslegung in eins. Auch hier erweist sich Hesiod als der Erste. Der erste europäische Dichter, der an mehreren Stellen seiner beiden Werke von sich selbst spricht, ist auch der erste europäische Philosoph.
Jahrhunderte vor Anaximander, Heraklit und Empedokles fragt er nach dem Ersten, Ursprünglichen, Primordialen. Was war zuerst? Und wie entwickelte, entband und entfaltete sich alles bis hin zur Gegenwart hic et nunc, hier und jetzt? Der den Anfang erblickende Hesiod zielt auf den Beginn des Weltprozesses, der im Heute des dichtend Fragenden, fragend Dichtenden mündet.
„Zuerst entstand das Chaos …” Hesiod gibt zu denken. Das entscheidende Wort ist gefallen im hundertsechzehnten Vers der Theogonie: Chaos.
Hesiod gibt zu denken: Im Anfang war das Chaos? Hier stock’ ich schon. Wer hilft mir weiter fort? Ich kann das Chaos hoch unmöglich schätzen, ich muß es anders übersetzen, wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. Hilfe und Erleuchtung bringt das Wort selbst: Chaos. Wir denken dabei an das Wort der anderen Genesis, den im zweiten Satz des ersten Kapitels des ersten Buches Mosis stehenden Ausdruck tohu wa-bohu, der zur geflügelten Redensart geworden ist. Wir sprechen von Tohuwabohu, wenn wir Durcheinander, Ordnungslosigkeit, Wirrwarr meinen. Dies entspricht durchaus dem Sinn des hebräischen Wortes: „wüst und leer” war die Erde, die Gott im Anbeginn mit dem Himmel erschaffen hat. Tohu wa-bohu erscheint in der Bibel als völlig negativ. Der Wirrwarr ist unschöpferisch, ergebnislos, schlecht. Aus sich selbst vermag er nichts hervorzubringen. Dies kann nur Gott, der Herr der Schöpfung.
Das in Hesiods Genesis beschworene uranfängliche Chaos ist durchaus kein Tohuwabohu. Wenn wir genauer lesen, ist das Chaos auch gar nicht zuallererst. Es wird bloß als erste Emanation oder Ausgeburt des Welt- und Götterentstehungsvorgangs genannt. Namentlich ist Chaos das erste, kosmogonisch jedoch das zweite. Das erste wird von Hesiod nicht unmittelbar zur Sprache gebracht, wohl aber verhüllt. Die Hülle ist allerdings so durchscheinend, daß man an die im Altertum berühmten Gewebe von der Insel Kos, die kaum etwas vom Körper verbargen, denken muß.
Diese nahezu durchsichtige Hülle ist das Wort Chaos. Chaos géneto, das Chaos entstand zwar als erstes; doch eben dadurch, daß es entstanden ist, erweist es sich nicht als das allererste. Das wahrhaft Erste kann nur unentstanden sein. Nun hängt aber das griechische Wort Chaos, das Hesiod mit Bedacht verwendet, sprachlich mit chainein und chaskein zusammen: „gähnen”, „öffnen”, „klaffen”, „auseinanderspreizen”.
Das Chaos des Hesiod ist somit keineswegs das Nichts. Wo nichts ist, kann auch nichts gähnen, klaffen oder sich öffnen. Auch die Redensart von der „gähnenden Leere” setzt ja Seiendes voraus. Der leere Becher, der gähnende Abgrund sind nicht nichts, sondern Eigenschaften körperlicher Gegenstände. Ihr Nichts ist bezogen auf ein Etwas, das dieses relative Nichts umschließt und überhaupt erst bildet, untermauert, begründet und eben dadurch in Erscheinung treten läßt.
Ebensowenig entspricht das theogonische Chaos dem Tohuwabohu der biblischen Genesis oder der „rohen und ungeordneten Masse” (rudis indigestaque moles), von der Ovid in seinen „Metamorphosen” spricht. Ältester griechischer Sprachgebrauch unterscheidet sich vom biblischen und modernen. Sein Chaos war ganz und gar nicht „chaotisch”.
Chaos heißt Auseinanderklaffen. Hesiod sagte: Zuerst entstand das Auseinanderklaffen. Er sagt: Es entstand. Dies bedeutet, daß das Auseinanderklaffen nicht von aller Ewigkeit her war. Es ist entstanden (géneto). Als entstandenes ist Chaos somit bereits Teilabschnitt des Weltprozesses, wenngleich ein sehr früher.
Am Anfang entstand das Auseinanderklaffen. Wir fragen, was oder wer hier auseinanderklafft, gähnt oder sich auseinanderspreizt. Was klaffte und ließ dadurch eine Öffnung entstehen? Ahnend wagen wir Spätgeborenen zu sagen, was der Dichter nicht unmittelbar nennt. Was der Grieche Hesiod ehrfürchtig verschweigt oder als so selbstverständlich voraussetzt, daß es sich für ihn erübrigte, darüber Worte zu verlieren, sagen wir mit dem Vers des Deutschen Hölderlin:
O nenne, Tochter du der heiligen Erd,
Einmal die Mutter.
Wer sonst als die Mutter? Die all-eine, ursprüngliche, unvordenkliche Magna Mater, quae vivit et regnat in saecula saeculorum, um es in der feierlichen Sprache der Liturgie auszusprechen, die, wenn überhaupt irgendwo anders, hier geziemend und billig ist: die Große Mutter, die lebt und königlich regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit oder, wie man noch bis zu Luthers Zeit betete: von ewen zu ewen. Die urständige Allkönigin ist’s, die oder deren Metamorphose sogar noch der spätzeitliche Materialist Lukrez im Prooimion seines Atomgedichts hymnisch als Wonne der Götter und Menschen feiert (De rerum natura I, 1 - 44):
Weil denn du nur allein die Natur der Dinge regierest,
Ohne dich nichts hervor an die Pforten des himmlischen Lichts tritt,
Nichts den fröhlichen Trieb noch liebliches Wesen gewinnet …
Nicht Tohuwabohu klafft, nicht gähnt allverschlingendes nichtendes Nichts mit annihilierender Sterilität. Die Mutter liegt in Wehen. In rhythmischen Zuckungen eröffnen sie die Geburt. Keine Geburt ohne Wehen. Höhepunkt der die Schwangerschaft vollendenden, die Geburt einleitenden Wehen ist aber die mit Schmerzen verbundene Öffnung von Gebärmutter, Muttermund und Scheide. Geburt ist der mehr oder weniger qualvolle Vorgang des Dehnens, Öffnens und Klaffens, damit das Kind aus der Mutterhöhle herauskommt ans Licht. Die in Wehen sich auseinanderspreizende Mutter verhilft dem sie verlassenden Kind zur Geburt. Mit ihren Eröffnungs- und Austreibungswehen schenkt sie der Leibesfrucht das Leben. Aus dem menschlichen Fötus, der ihren Schoß verläßt, wird ein Menschenkind.
Wie auf Erden, so im Weltall. Wie bei den Menschen, so bei den Göttern. Geburtlichkeit ist das Gesetz des Lebens. Jede Geburt erweist sich aber seit alters — von ewen zu ewen — als trächtig hervorzeugendes, ans Licht der Welt zutage bringendes Gähnen, Sich-Öffnen und Klaffen. Keine Geburt ohne produktives, das heißt wörtlich: hervorziehendes, herausrücken lassendes und hervorlockendes „Chaos”. Jede gelingende Geburt ist ein fruchtbares Chaos. Dies gilt für Menschen, Erde und Sterne. Nietzsches Zarathustra spricht in der Nachfolge Hesiods das Geheimnis des Werdens aus: „Man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.”
O felix Chaos! Furchtbar fruchtbar, nicht Wirrwarr und Zerstörung, sondern schöpfungsträchtig und mutterwütig! Seliges Chaos der Welten- und Göttergebärerin, daß dir millionenmal mehr als der heiligen Maria der dogmatische wie kultische Würdename gebührt: Theotokos, Dei para, Dei genetrix, Bogorodica, Mater Dei, Mère de Dieu, Madre di Dio, Gottesgebärerin und Mutter Gottes. Darin aber gleichst du, himmel- und erdehervorbringende Madonna Hesiods, der christlichen Erzmutter, daß du den