Solcherart haben Patristik, Scholastik und auch noch der florentinische wie der Cambridger Humanismus Platon fortgesetzt, weitergedacht und umgebildet. Ähnliches gilt für die spekulative Mystik von Plotin über Dionysios Areopagita und Scotus Eriugena bis zu Meister Eckhart und dessen Nachfahren.
Wohin wir blicken: Platon ist allgegenwärtig. Er ist es nicht nur für Schulphilosophen und Fachtheologen, sondern bis weit ins achtzehnte, ja sogar noch ins neunzehnte Jahrhundert für jeden gebildeten Laien. Weltgewandte Lebemänner haben angesichts des nahenden Todes den „Phaidon” gelesen, so wie sie sich in ihrer Jugend an der Liebeslehre des „Symposions” und des „Phaidros” berauschten.
„In der Tat trachten die wahrhaft Philosophierenden danach zu sterben …”, heißt es in grandioser Einseitigkeit bei Platon, der ja auch in seiner „Apologie des Sokrates” die letzten Stunden des zum Tode verurteilten Meisters überliefert : die antike Entsprechnung der Passion.
„Der Gerechte wird gegeißelt, gefoltert, in Ketten gelegt und geblendet werden an beiden Augen und schließlich wird er nach allen Martern noch ans Kreuz geschlagen werden …”
Das steht nicht im Evangelium, das ist keine Weissagung des Jesaja. So heißt es in Platons Dialog über die Gerechtigkeit, der „Politeia” — ein griechisches Seitenstück zu den Prophetenworten über die Leiden des Gottesknechtes im Alten Testament. Ist es ein Wunder, daß Platon kanonischen Rang erhielt, ähnlich wie der Römer Vergil wegen seiner die Geburt eines Heilandsknaben feiernden vierten Ekloge als „adventistischer Heide” galt?
Wie in dem Buch der Bücher kann man auch in den Schriften Platons, der Bibel der Philosophen, fast alles finden. Geistreich treffend bemerkt Friedrich Schlegel, der Platon mit Jakob Böhme verbindende Meisterdenker der deutschen Romantik: „Platon enthält eigentlich die Weisheit, der ganze Geist der Philosophie ist in ihm; er hat alles gewußt, nämlich das Ganze, das, worauf es ankommt.” An anderer Stelle setzt er ergänzend hinzu: „Platon hatte kein System, sondern nur eine Philosophie … Man kann die große Einheit in Platons Werken nur suchen in dem bestimmten Gange seiner Ideen, nicht in einem fertigen Satze und Resultate, das sich am Ende finde … Er ist nie mit seinem Denken fertig geworden, und diesen immer weiter strebenden Gang seines Geistes nach vollendetem Wissen und Erkennen des Höchsten, dieses ewige Werden, Bilden und Entwickeln seiner Ideen hat er in Gesprächen künstlerisch darzustellen versucht.”
Deshalb erscheint uns Platon bald als virtuoser Rationalist und Dialektiker, dessen subtile Begriffsbestimmungen akrobatisch anmuten und uns schwindelig machen; bald als Dichter, Mythenschöpfer und Visionär, der das Geheimnis der Wirklichkeit in unvergeßlichen Bildern zu vermitteln trachtet. Ich erwähne das Höhlengleichnis in der „Politeia”; die Eröffnungen über das Schicksal der Toten im Jenseits, die sich am Schluß des erwähnten Dialogs, aber auch des „Gorgias” und des „Phaidon” finden; die Rede des Aristophanes über den androgynen Urmenschen im „Symposion”; den das mit einer Weltseele ausgestattete All als „Abbild” (eikón, „Ikone”) eines ewigen Urbildes deutenden Schöpfungsbericht im „Timaios”.
Der leibfeindliche, die Sinnlichkeit als pöbelhaftes, unzuverlässiges, niederträchtiges Zeug befehdende jenseitssüchtige Aristokrat und Asket lobpreist an anderer Stelle den Eros als Mittler zwischen Göttern und Menschen, als Himmelsleiter, als lebenstiftende, weltbeschwingende und geistbildende Urmacht. „Amor ist es, der uns zusammendrückt.” Das ist zwar Novalis, aber fast wörtlich sagt dies, in der Nachfolge Hesiods, der den Eros als Urgestalt philosophischen Daseins feiernde Platon durch den Mund der Priesterin Diotima, die den Sokrates in die Mysterien der geschlechtlich-übergeschlechtlichen Liebe eingeweiht habe.
Der die Poeten aus seinem Staat verbannende Philosoph hat nicht nur selbst in seiner Jugend Tragödien hervorgebracht, die verlorengegangen sind, sondern gibt sich auch in seinen Dialogen immer wieder als hinreißender Dichter zu erkennen, im „Lysis”, im „Symposion”, im „Phaidros” (aus dem Thomas Mann ganze Passagen in seine Novelle „Der Tod in Venedig” hineingearbeitet hat). Den Homer und den Hesiod tadelt der Moralist Platon zwar, weil sie „schlechte Gleichnisse gebrauchen betreffs dessen, wie beschaffen die Götter und die Heroen seien”; er empört sich darüber, daß die Dichter sich erdreisten, den Göttern Krieg, Ehebruch und Verwandlung in Tiergestalt zuzuschreiben. Ebenso hält er, wie später frühchristliche Eiferer und puritanische Protestanten, das Theaterspiel für eine bedenkliche Sache, weil zu lügenhafter Nachahmerei und aufreizender Verwandlungskunst verführend.
Doch derselbe Platon spricht an andrer Stelle, in den „Nomoi”, von dem „gottbegeisterten Dichtergeschlecht”, das „durch die Gunst der Chariten und Musen mit seinen Liedersprüchen oft genug die Wahrheit trifft”. Derselbe Platon plädiert für eine musische Erziehung, lobpreist das Ästhetische als menschenbildende, ethosformende Macht. Gesang und Reigen sind für ihn nicht bloß Kinderspiel, sondern staatsbürgerliche Einrichtung und Gottesdienst zugleich. Platon, der einmal die Dichter für Lügenbolde und Jugendverderber, ein andermal für göttlich inspirierte Lehrmeister der Wahrheit hält, einmal geradezu calvinistisch ernst und nüchtern, dann aber zu solchen Aussagen sich hinreißen lassend: „Jedermann also, ob Mann oder Frau, möge die schönsten Spiele zum eigentlichen Inhalt des Lebens machen, ganz im Gegensatz zu der jetzt herrschenden Denkweise … Eben dies, Spiel und Bildung, sind für uns Menschen das Ernsthafteste. Gewisse Spiele muß man zum eigentlichen Inhalt des Lebens erheben, nämlich Opfer, Gesänge und Tänze” (Nomoi).
Der die Vernunft vergöttlichende, die Leidenschaften verdächtigende Intellektualist feiert im „Phaidros” Begeisterung und Wahnsinn, Enthusiasmos und Mania, als Gottesgeschenke, die den in sich verrammelten und verkrusteten Menschen überschwänglich heilsam entgrenzen, öffnen und erschüttern: „Nun aber entstehen uns die kostbarsten Güter aus einem Wahnsinn, der als göttliche Gunst verliehen wird …” (Phaidros); und er zählt auf die Pythia des Orakels zu Delphi, die Priesterinnen in Dodona, die Sibylle und andere verzückte Seherinnen; die Mysterien des Rausch- und Lösegottes Dionysos; das Besessensein von den Musen, das den Dichter erst zum Dichter werden läßt; und schließlich die Hingerissenheit durch das überwältigende Ereignis des Schönen, die erotische Erschütterung, die allerdings etwas anderes ist als noch so heftige Begierde. „Tatsächlich ist es allein der Schönheit beschieden, zugleich in höchstem Maße sinnenfällig und liebenswürdig zu sein …”
Der die Schönheit als Theophanie rühmende ist zugleich der das Schauen als klarsten, am geistigsten gestimmten Sinn feiernde Platon. Kein Wunder, daß er immer wieder Künstler, Ästheten und Kunstbegeisterte angezogen hat, auch solche, die von sich behaupteten, überhaupt kein Organ für Philosophie zu haben. Die Reihe reicht von Raffael über Shaftesbury, Winckelmann und Joubert bis zur deutschen Klassik und dem Grafen Platen, ja sogar bis zum Jugendstil, bis zu Stefan George, dem Maler, Graphiker und Schriftsteller Richard Seewald, den Malern von Beuron, und dem eine Ethik der Schönheit kündenden Paneuropa-Pionier Richard Coudenhove-Kalergi. „Wär nicht das Auge sonnenhaft, / Die Sonne könnt es nie erblicken …” Goethe hat mit diesen Versen eine durch Plotin vermittelte erzplatonische Einsicht dichterisch knapp zur Sprache gebracht.
Der das Schöne mit dem Guten aufs innigste zusammenschauende Platon ist der Vater des Idealismus. Durch ihn ist das Wort Idee zum festen philosophischen Terminus geworden.
Das griechische Wort idea (Aussehen, Erscheinen, Gestalt) leitet sich ab von idein (sehen, erblicken, schauen); das dazu gehörige Verbalnomen lautet eidos (Bild, Gestalt, Form, das Geschaute). Die Verkleinerungsform von eidos heißt eidolon (Bildchen). Von ihm leiten sich übrigens unsere drei Fremdwörter ab: Idol (Trugbild, Gespenst, Wahnvorstellung, Götzenbild), Idyll (Bild friedlich-einfach-beschaulichen Lebens) und schließlich Ideal (Vorbild, Leitbild, Zielbild).
Welch ein Glück, daß Platon niemals