»Die üblichen Verdächtigen also«, murmelte Tile Brandis.
»Wie meinen?« In Christoph von Hagens Gesicht breitete sich Zornesröte aus.
»Nichts.« Brandis winkte ab.
»Wo sind sie?«, wollte Sprenger wissen.
»Im Keller, wo sonst?«
»Ich bin fertig«, meldete sich nun der Stadtarzt zu Wort. Alle drehten sich zu ihm um.
»Zu welchem Ergebnis bist du gekommen?«, erkundigte sich Eggert Unverzagt.
»Ich denke«, sagte der Stadtarzt und deutete auf ein Pergament neben dem Toten, das er nicht nur mit Maßen bekritzelt, sondern auch mit blutigen Fingerabdrücken versehen hatte, »drei Mariengroschen ist die Wunde wert.«
Jacob Klingenbiel konnte wie so oft nicht schlafen. Er teilte sich die kleine, stickige Kammer neben den Lagerräumen des Hauses Blauer Schwan mit den Lehrjungen Michael und Jonas, die er um ihre unbeschwerte Jugend beneidete. Zwar waren Lehrjahre weiß Gott keine Herrenjahre, und die Burschen mussten nicht nur alle möglichen niedrigen Arbeiten verrichten, sie wurden auch für kleinste Verfehlungen an den Ohren gezogen, in den Hintern getreten oder gar mit dem Stock geprügelt. Wenn Michael und Jonas abends in das Bett fielen, das sie miteinander teilten, schliefen sie sofort ein. Aber niemand konnte ihnen ihre kindliche Fröhlichkeit nehmen, keine Drohungen und auch kein Wutausbruch des Meisters. Sie waren arbeitsam und zeigten sich anstellig, auch wenn sie manchmal noch etwas ungeschickt waren und zu harmlosen Streichen aufgelegt, doch immerhin hatten sie ein Ziel: ihre Lossprechung. In einigen Jahren konnten sie Gesellen werden. Allein die bloße Möglichkeit spornte sie an.
Jacob war Geselle, doch was hatte er davon? Gar nichts. Wenn Klingenbiel an einer der Morgensprachen des Sankt-Andreas-Knochenhaueramtes teilnahm, um auf dieser Zusammenkunft mit den anderen Meistern über zünftische Angelegenheiten zu beraten, um einen neuen Meister in das Amt aufzunehmen, was aus Brotneid immer seltener geschah, oder um sich schlicht und einfach voll zu fressen und zu besaufen, dann fand seine junge Frau immer einen Grund, die Lehrlinge und das Gesinde mit Aufträgen aus dem Haus zu schicken. Jede Morgensprache dauerte lange und endete mit einer Zecherei, denn immer gab es Metzger, die gegen die Zunftordnung verstießen, indem sie zu viel schlachteten oder ihre Gewichte manipulierten oder schlechte Waren feilboten, und daher war die Kasse mit den Strafgeldern gut gefüllt.
Waren Meister und Gesinde außer Haus, erwartete Marie den Gesellen in ihrer Schlafkammer. Sie lag nackt unter der Daunendecke, die sie anhob, wenn Jacob kam. Jacob schlüpfte zu ihr, und ihm war fast alles erlaubt. Er durfte die Gattin seines Meisters küssen und überall berühren, wo er nur wollte, allein von ihrem Nest, ihrer Höhle, vom Sitz der Sünde konnte er nur träumen, wenn er nachts in seinem Bett lag und den Atemzügen der Lehrjungen lauschte. Aber er wollte sie besitzen, so wie Klingenbiel sie besaß. Er wollte die Erlaubnis zum Betreten der fremden Welt zwischen den Schenkeln des Weibes, und zwar eine Erlaubnis nicht nur von Marie, sondern eine mit kirch lichem Segen. Der Traum genügte ihm nicht mehr.
Jacob legte Hand an sich. Er achtete darauf, keine Geräusche zu verursachen, aber das altersschwache Bett knarrte, selbst wenn er sich noch so vorsah. In Maries Höhle wollte er stundenlang verweilen. In seinem Bett ging alles viel zu schnell.
Nachdem es vorbei war, atmete Jacob noch eine Zeit lang heftig. Er hatte sich der Sünde der Selbstbefleckung hingegeben, aber das war mit zwanzig Vaterunsern und einem halben Pfennig für die Armenkollekte aus der Welt zu schaffen. Bei jeder Beichte bekannte er, was er Nacht für Nacht tat, und manchmal hatte er das Gefühl, dass der Priester seinem Geständnis nicht nur angehaltenen Atems lauschte, sondern dass sich seine Hände dabei unter die Soutane verirrten.
Knecht Matthias täuschte sich, als er vermutet hatte, Jacob hätte am Abend Bier getrunken. Der Geselle war keineswegs in einer Schänke gewesen, weder im Bunten Ochsen noch im Pferdekopf oder in der Sau, sondern er hatte im Frauenhaus Befriedigung gesucht. Neben Kost und Logis bekam er von Vater Klingenbiel auch ein wenig Geld, das er in einen kleinen Lederbeutel tat, den er auf einem Balken in der Diele versteckte. Andere Gesellen setzten ihre mehr als bescheidenen Einkünfte in Bier um, Jacob trug sie zu den losen Frauen, denn es lohnte sich nicht, das Geld zu sparen: Für Eschung und Bürgereid würde es niemals reichen. Und im Frauenhaus bekam man ein passables Weib bereits für einen halben Kreuzgroschen, den Preis von einem Pfund Schweinefleisch oder einem Pfund Hirsch.
Aber es nutzte nichts, die Hübschlerinnen verschafften ihm nur eine kurzzeitige Erleichterung. Er hatte eine Favoritin, Kristin, die fünfzehn Jahre alt war, aber manchmal trieb er es auch mit der Hurenmutter, mit Madame Catherine, wie sie sich nannte, seitdem ihr irgendein Durchreisender erzählt hatte, Kaiser Karl sei am burgundischen Hof aufgewachsen und beherrsche nur Französisch. Katharina, wie sie wirklich hieß, behauptete gern, als junges Mädchen dem Enkel des im Volk sehr beliebten Kaisers Maximilian oft zu Willen gewesen zu sein, dabei hatte sie Hildesheim nie verlassen. Und sie war entsetzlich ungebildet: Sie hielt Burgund für eine spanische Provinz. Doch Jacob hörte ihr gern zu, wenn sie ihn in die Arme nahm und ihn ihren Kaiser nannte. Sie tippte auf seine Nase, strich ihm über die Stirn, berührte sein Kinn und erklärte, Karl, der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, der König von Spanien und Neapel, der Herr der Niederlande und Herrscher über Amerika sehe eigentlich aus wie er. Jacob Findling, der ein Nichts war, genoss diese Schmeicheleien. Er genoss das Gefühl von Geborgenheit, das er nur bei Katharina hatte, er genoss, dass er ihr mit seinem Wissen überlegen war, und er genoss, dass er mit ihr reden konnte; Kristin kicherte immer nur, wenn er von sich und seinen Träumen sprach.
Aber Befriedigung, wirkliche Befriedigung verschafften ihm beide Frauen nicht. Die erhoffte er sich allein von Marie, die sich verweigerte. Denn sie liebte er.
Jacob war der festen Überzeugung, sie zu lieben. Er liebte sie so sehr, dass er sie heiraten wollte.
Heiraten wollte er sie auch, um aufzusteigen. Um nicht mehr Jacob Findling zu sein, sondern Meister Johannes Klingenbiel.
ZWEITES KAPITEL
Die Freiheit eines Christenmenschen
Als sich Bruder Eusebius in seiner Zelle im Paulikloster auf die Lagerstatt legte, begann die Welt um ihn zu kreisen. Die Wände und die Decke des engen Raums verwandelten sich zu lebendigen Wesen, in denen Blut floss; anders war doch gar nicht zu erklären, dass sie hin und her, hoch und nieder wogten. Eusebius richtete sich sofort wieder auf. Bruder Balthazar hatte ihn mit zu viel Wein traktiert.
Eusebius stöhnte. Er hatte den guten Rheinwein quasi auf nüchternen Magen genossen, und das bekam nicht einmal dem stärksten Ritter. Obwohl das Rittertum ja quasi – quasi, dachte Eusebius – vernichtet worden war. Jedenfalls quasi ausgeschaltet: Vor zwanzig Jahren, als ein gewisser Franz von Sickingen durch das Heer der Kurfürsten von Trier und der Pfalz und vom hessischen Landgrafen besiegt worden war und tödlich verwundet auf dem Landstuhl starb. Das Rittertum hatte sich einfach überlebt. Niemand brauchte Ritter, wenn man mit Landsknechten auskam. Die wollten nur Geld und keine Lehen. Obwohl, Ritter neigten – wenn sie keine Raubritter waren – eher zur Treue. Quasi. Landsknechte wechselten die Fronten, wenn sie unzufrieden waren. Die kämpften für den, der besser bezahlte. Quasi!
Geld, dachte Eusebius. Geld, Geld, Geld! Er krümmte und streckte seine Zehen. Quasi, quasi, Geld, Geld! Der Augsburger Geldsack Anton Fugger hatte so viel von diesem sündigen Stoff, dass er es sich leisten konnte, den Kaiser zu finanzieren. Ein Augsburger Handelsherr kaufte Kaiser, als wären sie Bergwerke; das musste man sich doch einmal vorstellen! Vermutlich war er der Antichrist.
Ich hätte nicht so viel Wein trinken dürfen. Und das hier ist doch gar nicht meine Zelle!
Es könnte aber seine Zelle werden. Der Prior, der ihn so freundlich als Gast aufgenommen hatte, hätte sicher nichts dagegen, wenn der weit gereiste Eusebius von Braunschweig seinem Konvent beitreten würde.
Immerhin kannte er seine Schrift Des Doctor Luthers Irrtümer von der Gnade Gottes nebst einer Apologie der sieben Sakramente, so notwendig sind für die Erlangung ewiger Seeligkeit.