Der Geselle des Knochenhauers. Frank Goyke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Frank Goyke
Издательство: Bookwire
Серия: Hansekrimi
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783863935122
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an denselben. Der weiche Kern unter der harten Schale verfertigte seine Gedanken. Im Moment jedoch war sein Hirn ein Weinfass.

      »Was wollte Bruder Balthazar eigentlich von mir?«, fragte Eusebius die Wand, die er anstarrte. Dann erbrach er sich.

      »Wer bist du?« Tile Brandis beugte sich vor. Der Wandergeselle stand mit verschränkten Armen vor ihm. Christoph von Hagen hatte ihn nicht ohne Grund in das Verlies gesperrt, das unmittelbar neben dem Einbecker Keller gelegen war. Manche Gefangenen zermürbte es, wenn sie das fröhliche Zechen von nebenan hörten.

      Doch der Wandergeselle sah nicht aus, als könne ihn irgendetwas rasch zermürben.

      »Ein Geschöpf des Herrn«, sagte er. Das traf zweifellos zu, aber der arrogante Ton forderte Brandis heraus.

      »Bist du Protestant?«

      »Was ist das?«

      »Mir scheint, dass du dir deiner Lage nicht bewusst bist«, sagte Brandis sanft. Ihm war es durch seine Beredsamkeit – und auch weil er einer der reichsten Familien angehörte – gelungen, die anderen Ratsherren und sogar den Proconsul davon zu überzeugen, dass sie sich um die Bettler und den betrunkenen Tagelöhner kümmern sollten, die Christoph von Hagen neben dem Wandergesellen ins Loch eingeliefert hatte. Für sie interessierte sich Tile Brandis nicht. Sie waren verdächtig, weil sie zu den Armen gehörten, aber was bedeutete das schon? Jede Stadt, die er kannte, litt darunter, dass die Schicht der Armen immer größer wurde. Das war eine enorme Gefahr. Und aus diesem Grund befasste er sich mit dem Protestantismus und wollte alles über die lutherische Konfession in Erfahrung bringen. In allen befreundeten Städten hatte sie sich, nach anfänglichen Ausbrüchen von Zorn, als probates Mittel erwiesen, die Gärung der Massen in anständiges Bier zu verwandeln. In ein Bier, das seine außerordentliche Würze obendrein dadurch erhielt, dass man Kirchengüter für die Stadtkasse einzog. Um Glaubensdinge, wie dieser komische Augustiner in Wittenberg wohl noch immer hoffte, ging es längst nicht mehr. Luther träumte, und das fand Tile Brandis durchaus sympathisch. Doch seine Anhänger machten Politik.

      Und Politik machte auch Brandis, denn er war Ratsherr.

      »Ich erkläre es dir. Auf dem Reichstag zu Speyer Anno tausendfünfhundertneunundzwanzig setzte Ferdinand, unser König und der Bruder sowie Statthalter des Kaisers, das Wormser Edikt wieder in Kraft. Dieses Edikt verhängte immerhin die Reichsacht über Martinus Luther! Außerdem hob Ferdinand jene Passagen eines Reichsabschieds von 1526 … Weißt du, was ein Reichsabschied ist?«

      Der Wandergeselle schüttelte den Kopf. Sein Blick drückte nicht das geringste Interesse aus; eher schon schien es, als würde er durch den Ratsherrn hindurchsehen.

      »Ein Reichstagsbeschluss«, erklärte Brandis. »Beim ersten Reichstag zu Speyer rechneten alle noch mit einem Konzil, also beschloss man, dass sich jeder Stand gegenüber seinen Untertanen so verhalten möge, wie ein jeder solches gegen Gott und die kaiserliche Majestät hofft und vertraut zu verantworten. Im Grunde bedeutet es, dass jeder Reichsstand – also die Kurund Reichsfürsten, die Reichsgrafen und die Reichsstädte – die Konfession seiner Untertanen selbst entscheiden darf. Eine Art Religionsfrieden, könnte man sagen.«

      »Kommt zur Sache, Herr!«, verlangte der Geselle. Tile Brandis fuhr zurück. Das war ja eine unerhörte Frechheit: Ein Mensch ohne Bürgerrecht bot ihm die Stirn und forderte ihn auf, ihm langatmige Erklärungen zu ersparen. Aber Brandis beherrschte sich.

      »Wie gesagt, auf dem zweiten Speyrer Reichstag wollte König Ferdinand diese Beschlüsse aufheben, weil ein Konzil nicht zustande gekommen war. Die evangelischen Reichsstände legten aber eine protestatio gegen Ferdinand und seine katholischen Verbündeten ein, und seither nennt man die Martinianer auch Protestanten.«

      »Aha.«

      »Mehr hast du dazu nicht zu sagen?«

      »Ich bin ein einfacher Mann, Herr.«

      »Und führst im Bunten Ochsen laute Reden gegen Papst und Reich«, fügte Tile Brandis hinzu.

      »Nicht gegen das Reich, Herr, sondern gegen den Kaiser«, sagte der Wandergeselle. Diese Antwort machte Tile Brandis stutzig: Der Mann verstellte sich und war klüger, als es den Anschein hatte. Dass er zwischen Kaiser und Reich unterschied, bewies, dass er über Rechtskenntnisse verfügen musste. Die verfassungsrechtliche Formel Kaiser und Reich setzte die beiden Seiten nicht etwa in eins, sie schied sie voneinander: Kaiserliche und Reichsinteressen waren beileibe nicht mehr identisch. Frankreich und Karl V. führten Krieg gegeneinander, weil sich der französische König aus der Umklammerung durch die Habsburger befreien wollte; alle Landgrenzen Frankreich stießen an habsburgisches Territorium. Der Krieg gegen Franz I. lag aber allein im Interesse des Kaisers, Reichsinteressen wurden von ihm eigentlich nicht berührt. Aber konnte ein Wandergeselle so etwas wissen? Es fiel ja sogar Brandis nicht leicht, es zu durchschauen. War der Wandergeselle am Ende gar keiner, sondern ein lutherischer Prädikant? Die Neugierde des Consuls war endgültig herausgefordert.

      »Aus welcher Stadt stammst du?«

      »Aus Nordhorn.«

      »Und was ist dein Beruf?«

      »Zimmermann, Herr.«

      »Wie Joseph?«

      »Ja, aber ich habe keinen Sohn.« Der angebliche Geselle lächelte. Brandis’ Zweifel wuchsen nur noch. Sogar etwas wie Witz schien der Mann aus Nordhorn zu haben, wenn er denn wirklich aus dieser Stadt kam.

      »Was willst du in Hildesheim?«

      »Ich suche Arbeit, Consul.«

      »Im Bunten Ochsen

      »Ihr kennt meine Wege nicht, Herr. Kreuz und quer bin ich durch die Lande gezogen, aber niemand brauchte mich. Auch in Hildesheim habe ich bei drei Zimmerleuten vorgesprochen. Und ich beherrsche mein Handwerk. Aber nein, leider kein Bedarf. Ich erhielt ja nicht einmal die Gelegenheit zu zeigen, was ich kann, also musste ich meinen Ärger mit ein paar Bier wegspülen.«

      »Um dann gegen den Heiligen Vater zu lästern«, sagte Tile. »Er betrügt uns, Herr.«

      »Und der Kaiser?«

      »Der betrügt uns auch. Das Reich ist ihm doch schnurz – er kann ja nicht mal Deutsch. Aber Geld will er. Eine Türkensteuer. Was gehen mich die Muselmanen an? Für mich sind sie weit weg. Bei den Hungarn … Wo ist das? Jedermann ist doch der Rock näher als die Hose. Auch Euch, Ratsherr. Oder ist Euch das Magyarenreich wichtiger als Hildesheim?«

      »Man darf nicht nur an sich selbst denken«, sagte Brandis ohne große Überzeugungskraft, denn nichts anderes tat er üblicherweise. Seine Familie – und Gott natürlich – bildeten den Mittelpunkt seiner Welt. Gesche war schwanger. Er wünschte sich einen Sohn. Das und seine Geschäfte beherrschten sein Denken sogar mehr als die Ratsangelegenheiten seiner Heimatstadt; insofern hatte der Wandergeselle schon Recht. Aber wenn Tile vor seinem Gedenkbuch saß, zwang er sich zu einem weiten Horizont. Die Nachwelt sollte nicht nur sehen, dass er ein guter Geschäftsmann und ein liebevoller Familienvater gewesen war, sondern auch ein Homo politicus.

      »Ihr habt auch keine Arbeit für mich, Herr?«, fragte der Geselle.

      »Kennst du die Lovekenstube?«, wollte Tile Brandis wissen; auf die Frage des Gesellen ging er vorerst bewusst nicht ein.

      »Wie?«

      »Die Lovekenstube?«

      »Nein, Herr. Ist das eine Badestube?«

      »Allerdings.«

      »Mit drallen Bademägden?« Der Wandergeselle lächelte. »Kann man so sagen.«

      »Ich kenne sie nicht … würde sie aber gern kennen lernen.«

      »Nun, heute ist sie geschlossen«, sagte Brandis. »Aber vielleicht kann man sie morgen wieder besuchen … Wie ist dein Name?«

      »Wenzel«, sagte der Geselle.

      »Nun, Wenzel, auch ich habe keine Arbeit für dich.« Consul Brandis erhob sich. »Ich habe meine Hände zwar in vielerlei Geschäften, aber