Das war vor sechs Jahren gewesen. Immer schon hatte Bruder Eusebius eine Wallfahrt zu den Stätten der Heiligen unternehmen wollen, um sich von seinen Sünden zu reinigen und um Gott besonders nahe zu sein. Sechs Jahre hatte seine Pilgerreise gedauert, nicht etwa weil er so ein schwerer Sünder gewesen wäre, sondern weil er eine neue klösterliche Heimat gesucht hatte. Er war in Aachen gewesen, in Einsiedel, in Santiago de Compostela und in Rom. Monatelang hatte er in der Basilica Santa Croce jeden Tag gebetet und einmal in der Woche die Beichte abgelegt, aber all diese Übungen hatten seine Furcht nicht überwinden können. Eusebius’ Ängste waren auf seiner jahrelangen Reise durch Europa nur noch stärker geworden: Der Predigerbruder fürchtete sich vor einem unmittelbar bevorstehenden Weltende.
Viele Zeichen sprachen dafür. Die Türken stellten eine beständige Gefahr für das Heilige Römische Reich dar, und in allen Weissagungen hieß es, dass am Ende der irdischen Welt fürchterliche und Blut trinkende Völker die Christenheit heimsuchen würden. Frater Eusebius war auf seiner Wanderung in den dritten Krieg Kaiser Karls V. gegen den französischen König Franz I. geraten und hatte das Wüten der kaiserlichen Landsknechte aus nächster Nähe beobachten können. In Rom hatte er die Folgen des Sacco di Roma gesehen, jener Plünderung der Ewigen Stadt durch Karls Truppen im Jahr des Herrn 1527, von der die Römer immer noch mit gesenkter Stimme sprachen. Monatelang hatten die Kaiserlichen in Rom geraubt, vergewaltigt und gemordet, fünfzigtausend Menschen waren den Massakern und der Pest zum Opfer gefallen – für die Stadt eine wahrhafte Apokalypse. Nahm man die Lehre des Martin Luther, den mit ihr verbundenen Abfall etlicher Christen vom rechten Glauben und schließlich die Vertreibung der Bettel orden aus Braunschweig hinzu, so konnte es kaum Zweifel daran geben, dass Gottes Zorn über die Christen hereingebrochen und der Antichrist geboren war.
Doch noch etwas anderes war mit Eusebius in Rom geschehen: Ein schmerzhaftes Heimweh begann ihn zu quälen. Er sehnte sich nach seiner Heimat Saxonia, und als er von einem Bediensteten der Kurie erfuhr, dass Hildesheim als letzte der sächsischen Städte dem Luthertum noch widerstand, wurde aus der Sehnsucht Gewissheit. Er musste zurückkehren. In Hildesheim, das in der Nähe von Braunschweig lag, würde er endlich zur Ruhe kommen.
Auch seine Rückreise wurde eine Wallfahrt. Er besuchte Altötting und das Heilige Blut in der Sankt-Alexandri-Stiftskirche zu Einbeck. Dort unternahmen die Bürger, unter ihnen vielleicht auch der getötete Peter Groper, zwar alles, um ihre Stadt wieder aufzubauen, aber die Spuren des schrecklichen Stadtbrands waren noch überall zu sehen: apokalyptische Zeichen also auch hier.
»Du bist nachdenklich, Bruder Eusebius?«, fragte Weihbischof Balthazar. »Und du zögerst?«
»Nein, ich zögere nicht.« Eusebius straffte seinen Oberkörper. »Ich möchte den Rest meines Lebens im Paulikloster von Hildesheim verbringen.«
»Ausgezeichnet, mein Lieber. Ganz ausgezeichnet.« Fannemann presste den Arm des Mönchs. »Ich möchte dir einen Auftrag erteilen. Ich weiß, unser Orden untersteht allein Rom, aber wir gehören ihm beide an. Nimm es also als Bitte von Ordensbruder zu Ordensbruder, als freundschaftlichen Auftrag gewissermaßen.« Der Weihbischof gab seiner Stimme einen schmeichelnden Ton, der Eusebius sofort misstrauisch machte. Fannemann war mehr als ein gewöhnlicher Ordensbruder, und wenn er um etwas bat, tat er es aus einem Machtbewusstsein, das Widerspruch gar nicht zuließ. Eusebius mochte Menschen wie Fannemann nicht besonders. Aber er war vom Wohlwollen des Weihbischofs abhängig.
»Was soll ich tun?«, fragte er.
»Höre dich in der Stadt um. Trage alles zusammen, was einen Anhänger Luthers mit dem Mord in der Badestube in Verbindung bringen könnte.«
»Und wenn es nun kein Lutheraner war?«
»Ich spreche nur von Möglichkeiten, mein Freund«, sagte Fannemann, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Bruder Eusebius war von dessen Ansinnen alles andere als begeistert. Er war Seelsorger und Prediger und für Spitzeldienste nicht geeignet. Jedoch war er nicht nur ein wissbegieriger, sondern auch ein neugieriger Mensch, und so gab er Fannemann zwar keine Zusage, aber er lehnte auch nicht rundheraus ab.
Der Büttel und der Badeknecht hatten die sterblichen Überreste des Einbecker Holzhändlers Groper auf einem Handwagen zum Rathaus geschafft und sie dort in einer Kammer aufgebahrt. Obwohl sie den Wagen mit einer Plane abgedeckt hatten, war die Haut des Toten noch immer feucht. Und sehr weiß war sie, so weiß die das Fleisch eines gekochten Huhns: Groper hatte sehr viel Blut verloren, ja er war regelrecht ausgeblutet.
Die Ratsherren stand um den Tisch herum, auf dem die Leiche lag. Der Stadtphysikus, ein auf der Universität ausgebildeter Arzt, breitete seine Instrumente aus, mit denen er die Wunde vermessen wollte. Diese Aufgabe hätte auch ein Wundarzt oder sogar der Bader übernehmen können, denn auch sie waren Heilkundige, aber das Zeugnis des Physikus wog schwerer, weil es amtlich war.
»Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, sagte Consul Raven ein ums andere Mal. Sein Gesicht war von Ekel verzerrt. Auch Tile Brandis spürte einen starken Druck im Magen, sagte aber nichts.
»Was weißt du nicht?«, wollte Eggert Unverzagt wissen und zog unwillkürlich seinen gelben Umhang fester um sich. Er wandte den Blick von dem Toten mit der klaffenden Halswunde ab und seinem Ratskollegen zu. Der Stadtphysikus begann sein Werk.
»Ich kann einfach nicht glauben, dass der Mörder unerkannt entkommen konnte«, erklärte Raven.
»Aber Heinrich hat’s uns doch erklärt«, sagte Bürgermeister Sprenger. »Ich schließe auch die Augen, wenn ich ein Bad nehme.«
»Aber die Mägde!«, sagte Raven.
»Du weißt doch, wie sehr sie beschäftigt sind«, sagte Hinrich Einem mit einem wasserblauen Augenzwinkern und sprach damit aus, was Tile bereits in der Lovekenstube gedacht hatte.
»Was meinst du damit?«, fragte Harmen Sprenger scheinbar entrüstet. Brandis schwieg weiterhin. Natürlich wusste der Bürgermeister ganz genau, was Einem gemeint hatte. Vermutlich nahm auch er die verschwiegenen Dienste der Bademägde gern in Anspruch und spielte vor allem aus diesem Grund den Empörten.
Hinrich Einem wurde einer Antwort enthoben. Der alte Knecht des Knochenhauers von Alfeld brachte zwei Satteltaschen, das Gepäck des Peter Groper. Er wurde angewiesen, es auf einen weiteren Tisch in der Nähe des Fensters zu legen und sich sofort zu trollen. Alle Ratsherren drehten dem Toten den Rücken zu und nahmen die Taschen in Augenschein. Consul Brandis öffnete sie.
In der einen Satteltasche befanden sich ein Regenumhang sowie ein Wams und Beinkleider zum Wechseln, in der zweiten ein Nachtgewand, die Schlafmütze, ein Lederbeutel für die Wegzehrung und ein Schlauch für Wasser oder Wein. Brandis breitete all dies auf dem Tisch aus. Dann fuhr er mit den Händen noch einmal in beide Taschen. Er tastete ihr Inneres gründlich ab und stutzte.
»Keine Papiere«, stellte er fest.
»Unmöglich«, meinte Raven. »Er war ein Kaufmann auf der Fahrt, Tile. Reist du ohne Papiere?«
»Natürlich nicht.« Tile Brandis deutete auf die Kleidungsstücke des Toten, die ebenfalls aufs Rathaus gebracht worden waren. Gemeinsam mit Dirich Raven durchsuchte er auch sie. Die beiden Männer fanden dort zwar die Geldkatze des Holzhändlers und Brauers, die zwei Mariengroschen und drei Kreuzgroschen enthielt, ansonsten aber leer war.
»Wir werden Heinrich von Alfeld fragen müssen, ob er etwas über den Verbleib der Papiere weiß«, sagte Brandis. Die Ratmannen nickten. Dann wurde die Tür geöffnet, und Christoph von Hagen betrat die Kammer. Er warf rasch einen Blick auf den Toten, zuckte nur die Achseln und widmete seine Aufmerksamkeit den Herren des Rates. Seine kotigen Stiefel hinterließen feuchte Spuren auf den Dielen, als er näher trat.
»Wir haben ein paar zwielichtige Gestalten in Gewahrsam genommen«, verkündete er. »Zwei Bettler, die sich an der Stadtmauer beim Dammtor herumgetrieben haben, einen Tagelöhner, der laut grölend auf das Kreuztor zugewankt ist, obwohl er gar nicht in der