Marius Daniel Popescu
bei Urs Engeler
Marius Daniel Popescu
Die Wolfssymphonie
Aus dem Französischen
übersetzt von Michèle Zoller
Er war fast fünfzig, die meisten seiner Haare waren weiß, er ist zwei Tage nach dem Unfall von uns gegangen. In diesen zwei Tagen lag er im Koma, im Spital, wo sie ihn am Kopf operierten. Die Chirurgen, die ihn operiert haben, meinten, er könnte es schaffen. Sie haben ihm einen Teil des Schädelknochens entnommen. Sie hatten von seiner Frau eine Unterschrift für diesen chirurgischen Eingriff verlangt. Seine Frau hat unterschrieben, dass sie in die Risiken der Operation einwillige. Sie waren seit zwei Jahren verheiratet. Sie wohnten in einem kleinen Haus, und mit ihnen ihre Tochter aus erster Ehe, ihre Mutter und auch ihre Großmutter. Er lebte mit diesen vier Frauen unter einem Dach. Ihre Tochter war achtzehn. Ihre Großmutter war achtzig. Er war Bauingenieur. Ihre Mutter war taubstumm. Sie war fast sechzig. Als er starb, arbeitete er auf einer Baustelle in der Provinz. Es war eine Baustelle, auf der er die Errichtung einer Industriekäserei leitete. Zu jener Zeit kam er immer erst Samstagabend nach Hause. Am Montag in der Früh kehrte er auf die Baustelle zurück. Gegen acht Uhr morgens. Am Montagmorgen arbeitete seine Frau jeweils nicht. Seine Frau führte ein Geschäft für Musikinstrumente. Sie verkaufte Violinen, Klaviere, Flöten und Schlagzeuge. Sie war jünger als er. Sie war zwölf Jahre jünger als er. Er übte den Beruf des Bauingenieurs seit ungefähr zehn Jahren aus. Es war sein zweiter Beruf. Sein erster Beruf war Sportlehrer. Er hatte Leichtathletik betrieben. Er hatte eine Ausbildung zum Sportlehrer gemacht. Als du geboren wurdest, hat er in einer Sonderschule Sportunterricht für Taubstumme gegeben. Er hat am Telefon von deiner Geburt erfahren. Es gab zu jener Zeit nicht viele Telefonapparate. Er hat die Nachricht deiner Geburt gegen neun Uhr abends erfahren, und er hat ein Taxi genommen, um ins Spital zu fahren. Du bist gern Taxi mit ihm gefahren. Wenn das Taxi von einer asphaltierten Straße auf eine gepflasterte Straße wechselte, gefiel dir, wie der Klang der Reifen auf dem Belag sich veränderte. Der Klang der Reifen auf den Pflastersteinen war wie eine Truppe von Reitern im Angriff. Du hast gerne Reiter gespielt, der die Feinde angreift. Er hat dem Taxifahrer ein stattliches Trinkgeld gegeben. Während der Fahrt hat er dem Taxifahrer wieder und wieder erzählt, dass er gerade Vater geworden sei. Er ist aus dem Taxi gestiegen und ist quer hinüber zur Neugeborenenabteilung gerannt, er hat drei Stufen auf einmal genommen, bis vor die Tür, dann hat er geklingelt. Der Portier der Entbindungsstation ist herausgekommen, um ihm zu sagen, dass er dich außerhalb der Besuchszeiten nicht sehen könne; der Portier der Entbindungsstation hat an ein großzügiges Trinkgeld gedacht, und er hat ihm gesagt, er solle doch am nächsten Tag nach zehn Uhr wiederkommen. Dein Vater hat dem Portier der Entbindungsstation eine reingehauen. Er hat ihm zwei Faustschläge verpasst. Zuerst hat er auf das rechte Auge gezielt, dann auf den Mund. Zwei Faustschläge mitten ins Gesicht des Entbindungsstationportiers. Dann ist er alleine ein Stockwerk hochgegangen. Er hat begonnen, sämtliche Türen aufzureißen und den Namen deiner Mutter zu rufen. Er hat alle aufgeweckt. Er hat euch schnell gefunden. Die Krankenschwestern und die Ärzte konnten ihn nicht daran hindern, euch um zehn Uhr abends zu besuchen. Er wusste, dass du zu früh geboren worden warst. Du bist mit sieben Monaten zur Welt gekommen, und als er das Zimmer betreten hat, in dem du mit deiner Mutter warst, hat er dich im Brutkasten liegen sehen, und er hat der Krankenschwester gesagt: «Holen Sie ihn raus!» Und die Krankenschwester hat dich sofort herausgeholt, und er hat dich in den Arm genommen und geküsst und gesagt, du hättest eine große Nase. Er hat deine Mutter geküsst. Er hat dich im Arm getragen und gestrahlt im Spitalzimmer. Du hast keine große Nase. Du hast seine Nase. Er ist nicht lange auf der Entbindungsstation geblieben. Er ist ungefähr eine Viertelstunde geblieben, dann ist er wieder hinunter- und hinausgegangen, vorbei am Entbindungsstationsportier, der sich von zwei Krankenschwestern verarzten ließ. Er ist seine Freunde suchen gegangen. Er hat etwa ein Dutzend seiner Freunde gefunden und hat sie ins beste Restaurant der Stadt eingeladen. Er hat ihnen die ganze Nacht hindurch Essen und Trinken spendiert. Er hat mit ihnen gegessen und getrunken. Er hat ihnen von dir und deiner Nase erzählt. Als ein Rosenverkäufer das Restaurant betreten hat, hat er ihn zu sich gewunken und ihm alle Blumen abgekauft. Frühmorgens ist er auf die Entbindungsstation zurückgekehrt. Er ist mit den Rosen im Arm aus dem Taxi gestiegen. Der Portier vom Vorabend hat ihm aufgemacht. Der Portier vom Vorabend hatte aufgesprungene Lippen, und ein Auge war von der Schwellung der Wange zugequollen. Der Portier vom Vorabend hat ihm die Tür zur Entbindungsstation aufgemacht, dein Vater ist ohne eine Wort hineingegangen, und der Portier hat hinter ihm die Tür wieder zugemacht und ist in seine kleine Portierloge zurückgekehrt. Dein Vater hat deiner Mutter alle Rosen gegeben. Körperlich siehst du ihm ähnlich. Sonst gleichst du niemandem aus der Familie. Einmal hat deine Mutter dir gesagt, du wärst ein Kind Gottes; sie habe kein Kind haben wollen. Sie arbeitete viel, und ihre Arbeit hielt sie außer Haus. Sie war Buchprüferin, und sie war ständig unterwegs. Sie prüfte die Buchhaltung verschiedener Unternehmen. Sie wollte keine Kinder haben. Als sie mit dir schwanger war, war es dein Vater, der das Kind haben wollte. Deine Mutter hat dir gesagt, sie habe deine Abtreibung bereits bezahlt gehabt. Jedes Mal, wenn sie ins Spital gefahren sei, um abzutreiben, sei er mitgegangen. Er habe sie begleitet, und auf dem Weg habe er sie jedes Mal überredet, wieder nach Hause zu fahren. Er hat sie dazu gebracht, auf dem Weg zur Abtreibung kehrtzumachen. Viermal hat er alles daran gesetzt, sie nicht abtreiben zu lassen. Das vierte Mal, als sie wieder ins Spital fahren wollte, hat er ihr gesagt, dass es unmöglich sei. Er hat ihr gesagt, dass niemand diese Abtreibung durchführen würde, dass es dafür zu spät sei. Du warst zu groß, im Bauch deiner Mutter. Niemand konnte dir mehr etwas anhaben. So hat sie dich behalten. Deine Mutter und dein Vater haben sich sehr geliebt. Sie haben dich sehr geliebt, von Anfang an. Diese Abtreibungsgeschichte war eine Geschichte Gottes. Deshalb hat deine Mutter dir gesagt, dass du ein Sohn Gottes seist. Sie wollte dir sagen, dass der Tod durch den Willen Gottes komme und nicht durch den Willen der Menschen. Dein Vater habe ihr den Willen Gottes vermittelt. So hat sie den Wunsch deines Vaters, das Kind zu behalten, interpretiert. Nun bist du hier. Du bist hier, mit mir. Wir reden. Wir schauen uns an. Wir haben uns viele Erinnerungen zu erzählen. Manchmal sprichst du wie ich. Sonst sprichst du wie niemand anderer. Ich bin nie jemandem begegnet, der so spricht wie du. Ich bin achtundneunzig Jahre alt, und während meines ganzen Lebens bin ich keinem begegnet, der so spricht wie du, verstehst du? Ich habe die beiden Weltkriege miterlebt. Ich war in beiden Weltkriegen Soldat. Dein Vater hat mich gerne vom Krieg erzählen hören. Er war ein Krieger, dein Vater. Er war ein Krieger, der diese Geschichte mit der Einheitspartei nie akzeptiert hat. In den Betriebsversammlungen hat er immer jemanden als Mitglied der Einheitspartei oder als Arschlecker der Einheitspartei beschimpft. Die Arschlecker der Einheitspartei waren Arschlecker der Einheitspartei, weil sie Mitglieder der Einheitspartei werden wollten. Dein Vater hat niemandem den Arsch geleckt. Dein Vater wollte nie der Einheitspartei beitreten. Als er gestorben ist, habe ich dir zwei Telegramme geschickt. Mit dem ersten Telegramm wollte ich dich vorwarnen. Ich wollte dich auf die schlechte Nachricht vorbereiten. Im zweiten Telegramm habe ich dir gesagt «Papa ist gestorben». Wegen der Post ist das zweite Telegramm zuerst eingetroffen. Das andere, in welchem ich dir sagte, dass es deinem Vater schlecht gehe, ist erst hinterher angekommen. Du hast mir gesagt, du wärst beim Angeln gewesen, im Fluss, mit deiner Angelrute. Deine Tante ist ans Flussufer gekommen, sie hat geweint, und sie hat dir zugerufen, dein Vater sei tot. Du hast die Schnur der Angelrute aus dem Wasser geholt, du hast den Haken in die Hand genommen, du hast den Regenwurm, der daran befestigt war, vom Haken losgemacht, du hast den Haken an der Angelrute befestigt, und du bist losmarschiert, im Wasser, auf das Flussufer zu, wo deine Tante weinte und sagte, dass dir ein Unglück widerfahren sei. Du hast gesagt, dass du in der einen Hand den Plastiksack mit den geangelten Fischen gehalten hast. Du hattest ungefähr zwei Kilogramm Fisch geangelt. Du bist durchs Wasser gegangen und hast die Angelrute über einer deiner Schultern getragen, und du hast an deinen Vater gedacht und das Wasser des Flusses angeschaut und deine Tante, die am Flussufer auf dich wartete, und du hast die Pappeln angeschaut, die am Flussufer wuchsen, wo deine Tante auf dich wartete, und du hast an deine Angelrute gedacht, die aus einem Schilfrohrhalm gemacht war. Es war warm. Du trugst Shorts, und in einer der Taschen dieser Shorts hattest du eine Wachsdose, in welcher du die Regenwürmer zum Fischen aufbewahrtest. Du hattest in deiner Hosentasche diese Blechbüchse mit dem Deckel voller Löcher, damit die Regenwürmer atmen