3. Das Unbehagen am Monomythos. Aber die Menschen sind mythenpflichtig: Wenn das – wie ich eingangs sagte – gilt, ist diese Geschichtslosigkeit der modernen Sachlichkeitswelt kein Gewinn, sondern ein Verlust, und zwar einer, der nicht ausgehalten und nicht durchgehalten werden kann. Darum hat die moderne Welt die Mythen und Geschichten nicht überwunden, sondern sie hat faktisch nur ein Geschichtsdefizit erzeugt: eine Leerstelle, eine Vakanz.
In diese vakante Stelle tritt jetzt – scheinbar unwiderstehlich – der nachmonotheistische Monomythos ein: die durch die Geschichtsphilosophie zu »der« Geschichte im Singular ausgerufene revolutionäre Emanzipationsgeschichte der Menschheit (sie mag nun per Utopie als Kurzgeschichte traktiert werden oder per Dialektik mythische Umständlichkeit gewinnen). Das ist – nachdem Gott sich auf dem Weg über seine Einzigkeit aus der Welt schließlich in sein Ende zurückzog – die Fortsetzung der Heilsgeschichte unter Verwendung halb anderer Mittel: Dieser Mythenbeendigungsmythos bleibt – wie die Heilsgeschichte: nicht als deren Säkularisation, sondern als das Misslingen ihrer Säkularisation – die Alleingeschichte der Ermächtigung einer Alleinmacht zur Erlösung der Menschheit. Zugleich aber ist dieser Monomythos ›Emanzipationsgeschichte‹ von der christlichen Heilsgeschichte durch das Ende des Monotheismus getrennt als ihre profane Kopie: er ist also historisch ganz spät und ein moderner Tatbestand; er gehört nicht zur alten, sondern zur ganz neuen Mythologie.
Der Ausdruck »neue Mythologie« entstand kurz vor 1800. »Wir müssen eine neue Mythologie haben«, »eine Mythologie der Vernunft«: dies meinte 1796 der Urheber des so genannten »Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus«;19 ich gehöre zu denen, die der zuerst von Rosenzweig und zuletzt von Tilliette vertretenen Meinung anhängen, dass das Schelling gewesen sei.20 Aber Schelling, der so die »neue Mythologie« proklamierte, wurde – und das scheint mir bemerkenswert – nicht der Philosoph der neuen, sondern der Philosoph der ganz alten Mythologie. Zwar gilt das noch nicht vom Identitätssystem; dort – in der Kunstphilosophie: darauf hat besonders energisch Peter Szondi21 hingewiesen – gelten vorübergehend noch »berufene Dichter« und »jedes wahrhaft schöpferische Individuum« als interimistische Agenten der neuen Mythologie: jeder soll »von dieser noch im Werden begriffenen [mythologischen] Welt […] sich seine Mythologie schaffen«22. Aber dann – nach dem Ende des Identitätssystems – wird diese Forderung der neuen Mythologie für Schelling offenbar problematisch und schließlich suspekt: Mit ihr verbindet sich nun bei Schelling – scheint es – die Erfahrung, dass wir die neue Mythologie nicht erst haben müssen, weil wir sie längst schon in ungutem Übermaß haben. Denn – das zeigt sich jetzt und bis in unsere Zeit – die neue Mythologie wurde erfolgreich als Mythologie des Neuen: im Mythos des Fortschritts, der Revolution, der Weltveränderung, des kommenden Reichs, des Generalstreiks,23 des letzten Gefechts und der letzten Klasse, etc. Allemal handelt es sich dabei um Totalorientierung durch die Alleingeschichte der Ermächtigung einer Alleinmacht; das ist eben diejenige Gestalt des Monomythos, die nach dem Christentum möglich und gefährlich wird: der absolute Alleinmythos im Singular, der – als das zweite Ende der Polymythie – die Pluralität der Geschichten verbietet, weil er nur noch eine einzige Geschichte erlaubt: den Monomythos der allein seligmachenden Revolutionsgeschichte. Wo diese neue Mythologie die gegenwärtige Welt ergreift, wird gerade das liquidiert, was an der Mythologie doch Freiheit war: die Pluralität der Geschichten, die Gewaltenteilung im Absoluten, das große humane Prinzip des Polytheismus. Das Christentum verdrängte ihn aus dem Sonntag der modernen Welt, die neue Mythologie will ihn auch aus ihrem Alltag verdrängen. Darum gehört – wo sie aus Forderung Wirklichkeit wird und wo dies, wie beim späten Schelling, Erfahrung zu werden beginnt – zur neuen Mythologie das Unbehagen an der neuen Mythologie. Die Spätwerke Schellings sind – scheint mir – bereits Reaktion auf dieses Unbehagen: sie nehmen – wörtlich gemeint – Abstand von der neuen Mythologie. Darum kümmert sich Schellings »Philosophie der Mythologie« gerade nicht um die neue, sondern um die ganz alte Mythologie; und darum macht Schellings »Philosophie der Offenbarung« den Versuch, die neue Mythologie in ihrem ältesten Zustand anzuhalten und so als Position zu haben;24 denn die christliche Offenbarung: das ist die älteste neue Mythologie.
Schellings Abkehr von der neuen Mythologie durch Zuwendung zur ganz alten ist repräsentativ für das Schicksal des Mytheninteresses der modernen Welt insgesamt. Es ist geprägt durch das Unbehagen am Monomythos. Schon gleich, als dieser moderne Monomythos durch die Kreation des Singularbegriffs »die« Geschichte entstand, schon in der von Koselleck so getauften »Sattelzeit« kurz nach 1750 formiert sich – repräsentativ bei Christian Gottlob Heyne – im Gegenzug das affirmative Interesse an der Polymythie der alten und immer älteren Mythologie.25 Wo – vorbereitet durch den Monotheismus und vollstreckt durch den Monomythos der Fortschrittsgeschichte – nach dem Polytheismus auch die Polymythie aus unserer Welt zu verschwinden droht, sucht man sie – durch eine mythologische Wende zum Exotischen – außerhalb ihrer: diachronisch in der Vorzeit oder synchronisch in der Fremde, am besten in der fremden Vorzeit. Solch nostalgische Wende zur exotischen Polymythie vollzieht die von Carl Otlieb Müller sogenannte »Morgenländerei« der Altertumskunde: die Mythenforschung geht zurück vor die griechische Klassik auf deren orientalische Prämissen; das ist sozusagen der frühe und verdeckte Versuch einer Mythologie der dritten Welt. Sie hat – meine ich – mindestens drei Stadien: zunächst die mythologische Nachtseitenforschung der klassischen Philologie von Heyne und Zoëga über Görres und Creuzer bis Bachofen; dann das – immanent exotische – Morgenländereisurrogat einer Zuwendung zur germanischen Mythologie etwa bei Wagner; schließlich – nach der Konversion sozusagen von Odin zu Mao – die sinologische Linksmorgenländerei unseres Jahrhunderts, die immer noch – trotz des Schritts von Hafis zu Ho – der Devise des Westöstlichen Divan folgt: »Flüchte du, im reinen Osten Patriarchenluft zu kosten«;26 diese mythologische Morgenländerei zerfällt heute in Maoismus und Tourismus. Ihre seriöse Überbietungsgestalt ist die strukturale Ethnologie: der Versuch insbesondere von Lévi-Strauss, vom neuen Monomythos des Neuen dadurch Distanz zu gewinnen, dass man ihn der Konkurrenz fremder – polymythischer – Mythologien aussetzt und dadurch relativiert.27 Hier rumort – Henning Ritter hat das für Lévi-Strauss gezeigt28 – allüberall das Rousseau-Interesse am guten Wilden. Und es genügt dann nicht, dass er in der Vorzeit oder den traurigen Tropen lebt: Die Nostalgie transportiert ihn – per Zitat: denn die Menschen sind zitierende Lebewesen – in die gegenwärtigste Gegenwart. Als der Bruch mit dem Etablierten durch Kleidungssitten demonstriert werden sollte, verfiel man nicht zufällig auf den Savage-look: Was da – zottig und bärtig – unter uns weilte und weilt, repräsentiert (auf der Spitze der Modernität) den bon sauvage; es ist nicht so, wie der Irrtum der Älteren es suggerieren wollte: da trotten nicht ungepflegte Menschen, sondern gepflegte Zitate: Rousseau-Zitate. Was hier vor sich geht – die Verwandlung des Ältesten ins Modernste, die Promotion des Archaischen zum Avantgardistischen – kann man auch an anderen einschlägigen Vorgängen beobachten, etwa: Was – durchaus im Kontext der mythologischen Morgenländerei – Hegels Ästhetik als die Kunst vor den Verehrungs-, den Reverenzobjekten beim Streit zwischen »Alten« und »Modernen« – vor der »klassischen« und der »romantischen Kunstform« also – identifizierte, die im Anschluss an Creuzers Terminologie so genannte »symbolische Kunstform« der – wie Hegel sagte – »abstrakten« Kunst,29 wird spätestens Anfang des 20. Jahrhunderts zur Losung der Avantgarde.