Freilich: stimmt das nun wirklich und muss das so sein? Ich gebe gern zu: es mag Residualkompetenzen geben für die Philosophie, vielleicht sogar beträchtliche, womöglich nicht nur residuale, indes: darüber zu sprechen fehlt mir – mir ganz persönlich – die Kompetenz; denn dafür bin ich nicht zuständig, dazu bin ich nicht fähig, dazu bin ich allenfalls bereit, und lassen Sie mich das kurz erläutern. – Ich bin nicht zuständig, und zwar mindestens aus Gründen der Höflichkeit: Es wäre unhöflich, auch nur von ferne den Eindruck zu erwecken, die Münchener brauchten zur Würdigung einer Kompetenz, die sie – und vielleicht als einzige – selber kennen, einen Auswärtigen, gar einen in Hinterpommern geborenen Zwangsostfriesen, der am Fuße des Vogelsbergs sein bedenkliches Leben verbringt und darum ja auch sowieso eher zuständig ist für nonkonformistische Teile der südhessischen Grundlagenfolklore. – Ich bin auch nicht fähig zur Würdigung solcher Kompetenz, und zwar aus Gründen der Unfähigkeit: Meine Arbeitsstätte ist eben kein Institut für Naivität, sondern nur eines zur Suche der verlorenen, ein Zentrum für konzentrierte Ratlosigkeit: und solch ein Philosoph – nennen wir ihn einen sentimentalischen – hat es schwer etwa mit der Theorie, mit der, die aus dem Staunen erwächst, jenem unadressierten Dank fürs Wohlsein der Welt, der zur Schau ihrer schönen, guten und wahren Ordnung ermuntert; er ist nämlich ein schlechter Stauner, denn das Einzige, worüber er wirklich staunt, das ist: davongekommen zu sein, einstweilen und unwahrscheinlicherweise. – Gleichwohl bin ich bereit, über verbleibende Kompetenzen der Philosophie mich zu äußern. Dieser ganze Prozess des Kompetenzverlusts der Philosophie, er lässt sich ja schließlich auch ganz anders lesen: nicht als Weg der Enteignung, sondern als Weg der Erleichterung; denn vielleicht ist dieser Pflichtenverlust der Philosophie für sie in Wirklichkeit ein Gewinn von Freiheiten; ihre Verdrängung kann ihre Entlastung bedeuten: wenn sie jetzt nichts mehr muss, dann könnte das gerade heißen, dass sie jetzt nahezu alles darf. So mag also mancherlei für sie übrig bleiben. Denn da sind schließlich auch noch ihre unbestrittenen Pensen: die Philosophiegeschichte und ebenso auch die Logik, die freilich in Symbiose lebt mit der Mathematik. Überhaupt sind Symbiosen wichtig: vor allem für die Grundlagenphilosophie der Einzelwissenschaften. In diesen ist – nach Heideggers Diktum – so viel Philosophie wie Fähigkeit zur Grundlagenkrise: ihr Grundlagenkrisenmanagement ist also ein bleibendes philosophisches Pensum. Aber wer ist wirklich kompetent dafür? Reine Philosophen? Oder die Wissenschaftler der jeweils betroffenen Wissenschaft selber? Die Zeit der reinen Philosophen ist vorbei: wo sie auf Reinheit bestehen, verlieren sie schließlich die Philosophie. Wie also steht es mit ihrer Grundlagenkompetenz für die Wissenschaften? Hier sind offenbar Zweifel möglich und angebracht; ich äußere sie denn auch freimütig: teils schon deswegen, weil es keinen guten Eindruck machen würde, wenn hier in diesem Kolloquium über die Philosophie nur Zuversichtliches, nur Jubelndes gesagt würde; und teils auch aus kompositorischen, sozusagen aus gliederungsrhythmischen Gründen: was tut man nicht alles – wie jenes berühmte Wiesel – um des Reimes willen; meine Überlegung käme zu keinem Duktus und zu keiner Peripetie, wenn ich nicht zunächst dabeibliebe, nachhaltig die radikale Reduktionsgeschichte der Kompetenz der Philosophie und also nachdrücklich Folgendes zu behaupten, ich wiederhole es: Erst war die Philosophie kompetent für alles; dann war die Philosophie kompetent für einiges; schließlich ist die Philosophie kompetent nur noch für eines: nämlich für das Eingeständnis der eigenen Inkompetenz. Und wenn das so sich verhält, dann bleibt übrig für die Philosophie: gar nichts, also die reine, pure, nackte Inkompetenz, sowie – um den Sokrates zu zitieren – nur noch eine einzige ganz winzige Kleinigkeit, eine freilich sehr unsokratische Kleinigkeit, eine, die die Philosophie nicht weniger problematisch, sondern die sie vollends problematisch macht, etwas, das ich im Blick auf die radikal inkompetent gewordene Philosophie nennen möchte: ihre Inkompetenzkompensationskompetenz.
2. Über sie – also über diese Inkompetenzkompensationskompetenz – möchte ich jetzt zwei Vorbemerkungen, zwei mittlere Bemerkungen und eine Nachbemerkung machen. Sie werden – vermute ich – erst an dieser Stelle spüren, dass ich mein Thema, ein vorgegebenes wie gesagt, etwas eigenartig aufgefasst habe: nämlich mich interessiert hier nicht die Grenze zwischen dem unendlichgroßen Gebiete der Inkompetenz und dem unendlichkleinen Gebiete der Kompetenz der Philosophie, sondern mich interessiert gerade eine Nichtgrenze: die Legierung von Inkompetenz und Kompetenz, und eine derartige Legierung ist bei der Philosophie das, was ich genannt habe: ihre Inkompetenzkompensationskompetenz. Darüber also zunächst zwei Vorbemerkungen:
a) Diese Inkompetenzkompensationskompetenz hat bei der Philosophie viel mit ihrer Inkompetenz zu tun: denn kompensieren muss man nur, wo etwas fehlt; und so ist denn ihre Inkompetenzkompensationskompetenz zunächst einmal ein Symptom ihrer Inkompetenz.
b) Es gäbe sie nicht – diese Inkompetenzkompensationskompetenz –, wenn es nur die Inkompetenz der Philosophie gäbe und nicht auch ihre Kompetenznostalgie. Alle reden von Nostalgie: ich auch. Etwas zu sein: danach sehnt sich die Philosophie; und sie war etwas: das kann sie nicht vergessen, auch nicht dadurch, dass sie sich einredet, sie sei noch etwas,