Es könnte – erlauben Sie mir diese Schlussbemerkung – sein, dass all das nicht ohne Konsequenzen bleibt auch für die Philosophie. Es scheint mir ebenfalls fällig, dass sie ihre Kollaboration mit dem Monomythos beendet und Distanz gewinnt auch zu all dem, was in ihr selber zu dieser Kollaboration disponiert. Das ist insbesondere das Konzept der Philosophie als orthologischer Mono-Logos: als das Singularisierungsunternehmen der Ermächtigung einer Alleinvernunft durch Dissensverbote, bei dem – als unverbesserliche Störenfriede – die Geschichten a priori nicht zugelassen sind: weil man da erzählt, statt sich zu einigen. Mir scheint, es wäre gut, zu solcher Orthologie jenes lockere Verhältnis wiederzugewinnen, das in Bezug auf die Orthographie Mark Twain empfahl, als er sagte: Ich bedauere jeden, der nicht die Phantasie hat, ein Wort mal so, mal so zu schreiben. Jede Philosophie ist eine traurige Wissenschaft, die es nicht vermag, über dieselbe Sache mal dies, mal das zu denken und jenen dieses und diesen jenes denken und weiterdenken zu lassen. In diesem Sinne ist selbst der Einfall suspekt: es lebe der Vielfall. Die Geschichten müssen wieder zugelassen werden: gut gedacht ist halb erzählt; wer noch besser denken will, sollte vielleicht ganz erzählen: die Philosophie muss wieder erzählen dürfen und dafür – natürlich – den Preis zahlen: das Anerkennen und Ertragen der eigenen Kontingenz. Aber da ahnt man schon die Entsetzensschreie der Innung und ihre empörten Warnungen: dass das Relativismus bedeute – mit den bekannten Widersinnskonsequenzen und fallacies – und bös’ enden müsse oder gar im Skeptizismus. Es war einmal ein Skeptiker, der hörte dies und empfand es nicht als Einwand: Was meinen die wohl – murmelte er, als er merkte, dass diese Warnung an ihn selber adressiert war: aber vorsichtshalber murmelte er nur – was meinen die wohl, warum ich ein Skeptiker bin? I like fallacy. Hier stehe ich und kann auch immer noch anders: Ich erzähle – als eine Art Scheherazade, die freilich anerzählen muss jetzt gegen die eigene Tödlichkeit – ich erzähle, also bin ich noch; und so – just so – erzähle ich denn: Geschichten und spekulative Kurzgeschichten und andere Philosophiegeschichten und Philosophie als Geschichten und weitere Geschichten und wo es den Mythos betrifft – Geschichten über Geschichten; und wenn ich nicht gestorben bin, dann lebe ich noch heute.
Endnoten
M. Landmann, »Polytheismus«, in: M. L., Pluralität und Anatomie, München/Basel 1963, S. 104–150; vgl. M. L., »Pluralistische Endzeit«, in: M. L., Das Ende des Individuums. Anthropologische Skizzen, Stuttgart 1971, S. 147–149.
W. Nestle, Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, Stuttgart 1940.
C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken (1962), Frankfurt a. M. 1973, bes. S. 302–304; zur Grundfigur des Arguments bei Lévi-Strauss – was der moderne Mensch nicht sein will, stilisiert er zum Anderen, zur fernen »Natur« und zum »Wilden«: Dadurch hört er aber nicht auf, es zu sein – vgl. C. L.-S., Rasse und Geschichte (1952), Frankfurt a. M. 1972, bes. S. 16–18; exemplarische Anwendung: C. L.-S., Das Ende des Totemismus (1962), Frankfurt a. M. 1965; vgl. insges. C. L.-S., Mythologica (1964 ff.), bes. Bd. 4,2 (»Der nackte Mensch«), Frankfurt a. M. 1976, bes. S. 765–767: Der Mythos kann nicht sterben, ohne zugleich in der Musik wiederaufzuerstehen. – H. Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos«, in: M. Fuhrmann (Hrsg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 4), S. 11–66, vgl. S. 527–529. – L. Kolakowski, Die Gegenwärtigkeit des Mythos, München 21974.
W. Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Hamburg 1953, S. 1 und 103; zur gegenwärtigen Aufnahme dieses Ansatzes vgl. H. Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, Basel/Stuttgart 1977, bes. S. 145–147, 168–170, der zugleich den primären und dominanten Widerfahrnischarakter der Geschichten (bes. S. 54–56) und ihre Verfassung als »Kontingenzerfahrungskultur« (S. 269–271) betont.
H. Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff«, S. 43–45.
A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Frankfurt a. M. / Bonn 1964, bes. S. 222.
R. Barthes, Mythen des Alltags (1957), Frankfurt a. M. 41976, S. 88.
F. W. J. Schelling, »Philosophie der Mythologie« (1820–22) in: Sämmtliche Werke, hrsg. von K. F. A. Schelling, Abt. 2, Bd. 2, Stuttgart/Augsburg 1857, S. 52. Die Rolle des Mythos ist dabei also nicht nur, Fremdes zum Vertrauten umzuerzählen, sondern ebenso sehr, Schreckliches zu distanzieren; Formulierungen zu finden zur Charakteristik des Mythos als Distanzierungs- und Ersparungsverfahren habe ich versucht in meiner Zusammenfassung der Thesen von H. Blumenberg in: Fuhrmann (Hrsg.), Terror und Spiel, S. 527–530.
H. Weinrich, Tempus. Besprochene und erzählte Welt (1964), Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 21971.
M. Frisch, Mein Name sei Gantenbein (1964), Hamburg 1968, S. 19.
H. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Bonn 1960, S. 47–58.
E. Topitsch, Mythos – Philosophie – Politik. Zur Naturgeschichte der Illusion, Freiburg 1969.
Vgl. H. Schelsky, Systemüberwindung – Demokratie – Gewaltenteilung, München 1973, bes. S. 55–57.
Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 292; vgl. C. L.-S. Strukturale Anthropologie (1958), Frankfurt a. M. 1971, S. 230: »Nichts ähnelt dem mythischen Denken mehr als die politische Ideologie. In unserer heutigen Gesellschaft hat diese möglicherweise jenes nur ersetzt.«
Jetzt zusammenfassend: R. Koselleck, Artikel »Geschichte, Historie«, in: O. Brunner / W. Conze / R. K., Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, bes. S. 658–660.
R. Koselleck, »Historia magistra vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte«, in: H. Braun / M. Riedel (Hrsg.), Natur und Geschichte, Karl Löwith zum 70. Geburtstag, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1967, S. 265.